09/15/12

Technik & Papier

Schreibende leben oft ein wenig „anders“. Es betrifft Arbeitszeiten, Einkommensverhältnisse, soziales Umfeld und vieles mehr. Schreibende denken hier und da vielleicht auch „anders“. In einem Punkt aber unterscheiden sie sich nicht von allen anderen Menschen auch: in ihrer Beziehung zu technischen Werkzeugen.
Es gibt die „Ganz-und-gar-Begeisterten“. Sie betrachten den Computer als größten Segen seit Entstehung der Schrift, wechseln alle zwei Jahre das Gerät, haben immer das neueste Betriebssystem und die neueste Software, das neueste Mobiltelefon mit Internetzugang, haben seit Jahren keine Briefmarken mehr gekauft, und ihr Terminkalender ist samt Notizbuch längst ausschließlich auf vernetzten elektronischen Gerätschaften zu finden. Interessanterweise und wider Erwarten ist dies weder alters- noch geschlechtsspezifisch. Ihre frühere Arbeitsweise mit Handschrift und/oder Schreibmaschine – so sie der entsprechenden Generation angehören – ziehen sie gern ins Lächerliche und bezeichnen sie als altmodisch, unpraktisch, ineffizient, untragbar. Berühmte Namen in dieser Kategorie sind Elfriede Jelinek und Siri Hustvedt.
Es gibt die „Gewohnheitstiere“, die ihre Schreibinstrumente niemals geändert haben. Peter Handke schreibt mit Bleistift, Paul Auster mit einer Olympia-Schreibmaschine, Günter Grass bleibt bei seiner Olivetti. Mit mangelnder Flexibilität hat diese oberflächlich betrachtet sture Treue wenig zu tun, und sie sollte auch nicht vorschnell als mangelnde Neugier gedeutet werden. In der engen Verbindung zwischen Schreibendem und Text ist das durch die Vertrautheit des Schreibgerätes gesicherte Wohlbefinden ganz entscheidend: Der Geist kann nur dann frei und gelöst arbeiten, wenn das, was er nutzt, ihm so natürlich vorkommt, dass er es vergessen kann. Zwischen der bequemen Gewohnheit des sprichwörtlichen alten Schuhs, animistischer Furcht und Qualitätskontrolle einerseits und natürlicher Verlängerung des eigenen Körpers andererseits wird das Schreibinstrument oder zumindest die Schreibtechnik zum unabdingbaren Teil des Schreibprozesses.
Dazwischen bewegen sich die „Konvertiten“, die entweder aus Vernunft oder Resignation den Wechsel zum Computer vollzogen haben. Sie nutzen ihn als Schreibmaschine, Speicherplatz und Archiv, besitzen aber dennoch einen Terminkalender und ein Adressbuch aus Papier.

Ich gehöre zugegebenermaßen zur dritten Sorte.
Als ich zu schreiben begann, war mein erstes Arbeitsgerät ein schwarzer BIC-Kugelschreiber. Was abgegeben werden musste, wurde noch einmal der Lesbarkeit halber mit dem Füller in blauer Tinte säuberlich und mit großem Zeilenabstand abgeschrieben, bevor ich es der Schreibkraft meines Vertrauens zum Abtippen gab. Gegen Ende des Studiums aber erwies sich diese Praxis immer mehr als zu zeitraubend, und ein Jahr, bevor ich promovierte, schenkte mir mein Großvater eine mechanische Olympia-Reiseschreibmaschine. Ich schrieb meine Texte weiterhin vor, konnte sie aber von da an schneller fertigstellen, da ich nicht mehr auf freie Kapazitäten anderer angewiesen war. Tippen (mit drei Fingern!) erwies sich nicht als meine Lieblingsbeschäftigung: die Finger schmerzten schnell, und letztlich war ich erleichtert, als ich mein Manuskript endlich abgeben durfte. Als sich dann nach einigen Wechselfällen des Schicksals – nicht zuletzt gesundheitlicher Natur – ergab, dass ich von der Ware „Text“ würde leben müssen, wechselte ich zu einer elektrischen Gabriele 9000 mit Korrekturtaste und leichtgängigerer Tastatur. Meine gute mechanische Olympia behielt ich aber aus Sentimentalität und als Ausweichmöglichkeit. Ich habe sie heute noch, wenn auch im Keller.
Von mir aus hätte es dabei bleiben können: Ich schrieb vor, tippte ab, und dieser Komfort eines unsichtbaren Korrekturbands schien mir absolut ausreichend. Doch nach und nach verlangten immer mehr Kunden die Abgabe der Aufträge in Form von Dateien, und ich musste mich dem für mich unverständlichen und überheblichen Diktat des Marktes beugen. Glücklicherweise wurden die Computer immer kleiner, und ich besitze heute nur noch ein Laptop, das als selbstverständliches, wenn auch nicht geliebtes Instrument sein Dasein auf meinem Schreibtisch fristet.

Vor etwa fünf Jahren beschloss ich in einem Anflug konsequenter Sparsamkeit, unnötigen Papierverbrauch abzuschaffen und den Computer nicht nur als Schreibmaschine mit dem Vorteil der beinahen Geräuschlosigkeit und zur Speicherung von Aufträgen zu nutzen, sondern auch meine bis dahin auf Papier in entsprechenden Büchern stattfindenden Buchhaltung, Kunden- und Auftragsverwaltung direkt am Computer vorzunehmen.
Glücklich wurde ich damit nicht und habe in diesem Jahr beschlossen, viele Dinge wieder auf Papier umzustellen. Es ist für mich effizienter und beruhigender.

Zunächst gibt es nichts Sichereres als Papier: Ich muss mich nicht mehrmals am Tag ängstlich fragen, ob ich wirklich genug Backups und andere Sicherheitskopien gemacht habe. Eine in ein Heft mit Kugelschreiber geschriebene Information bleibt dort für alle Zeiten geschrieben, es sei denn, das Haus würde komplett abbrennen – Kugelschreiber widersteht sogar der Wirkung von Wasser und der meisten Chemikalien.
Papier ist auch deshalb ein Sicherheitsfaktor, weil es menschliches Versagen zu einem viel größeren Teil ausschließt. Natürlich ist es auch möglich, sich auf Papier zu verschreiben. Allerdings geschieht es aber seltener, und ein Fehler wird auch schneller während des Schreibvorgangs selbst bemerkt. Zahlendreher etwa sind unwahrscheinlicher. Zudem schließt Papier alle Fehler aus, die sich aus tückischen Fehlerquellen ergeben. Wer hat nicht schon in einem Text an beliebiger Stelle die Buchstaben „dc“ eingefügt, als er die Datei schließen wollte?
Papier spart Zeit. Auch wenn es das Tippen ermöglicht, in kürzerer Zeit größere Textmengen zu erfassen, ist der Zeitgewinn in der Tat illusorisch: Nicht nur die Zeit für das Sichern der Dateien, das Kopieren auf mehrere Sticks und Festplatten muss hinzugerechnet werden, sondern es müssen auch die „Zwischenereignisse“ berücksichtigt werden. Fragt ein Programm nach Bearbeiten einer Datei, ob man die vorgenommenen Änderungen speichern möchte, während man selbst der Meinung ist, man hätte es getan, muss in mühsamer Kleinarbeit geprüft werden, was die angesprochene Änderung sein soll, ob sie gewollt war oder aus Versehen geschehen ist – möglicherweise, um festzustellen, dass nur ein Druckvorgang gemeint ist, der nichts mit dem tatsächlichen Inhalt zu tun hat. Nach einem Eintrag in ein Papierbuch wird das Buch ohne Zweifel und ohne zeitraubende Kontrolle einfach geschlossen.
Papier ist wirtschaftlicher. Wer wirklich verantwortungsbewusst mit den auf dem Computer gespeicherten Daten umgehen will, muss sie zusätzlich auf USB-Sticks und mehreren inhaltsgleichen externen Festplatten archivieren, damit sie auch wieder zugänglich werden, wenn der Computer eines schlechten Tages beschließen sollte, zu seinen Ahnen zu gehen. Zur Sicherheit empfiehlt es sich ohnehin, wirklich wichtige Dinge zudem auszudrucken. Dies gilt zum Beispiel für steuerlich relevante Unterlagen, die dem Gesetz nach „jederzeit wieder auf Papier lesbar gemacht werden können müssen“, wie mein Steuerberater es ausdrückt. Den teuren Umweg über mehrere Speichermedien und den Papierausdruck kann man sich also getrost sparen, indem/wenn man direkt mit altertümlichen Methoden arbeitet.

Mittlerweile habe ich schon vieles auf Papier zurückumgestellt. Telefonische Anfragen und mündlichen Austausch zu bestimmten Projekten etwa speichere ich nicht mehr als Datei ab, ich notiere sie wieder samt Inhalt der Besprechung in ein Moleskine-Heftchen. Ich genieße die Ruhe und die Sicherheit, die mir meine Heftchen und Bücher geben.
Mit Papier zu arbeiten, ist auch ein Weg, einen Teil des Übermaßes an Verantwortung, das heutzutage immer mehr zu unserem Leben gehört, zu entschärfen. Meine Passwörter kann niemand hacken, denn ich habe sie nicht auf dem Computer. Die Kontaktdaten meiner Kunden sind in einem Papieradressbuch und einem Holzkarteikasten „gespeichert“. Ich kann sie sogar bei Stromausfall anrufen. Alle Informationen, die ich benötige, könnte ich – überspitzt ausgedrückt -, auch im Falle einer wochenlangen weltweiten Panne der Strom- und Internetnetze einsehen. Ein gutes Gefühl.

Mein Computer ist also wieder zu dem geworden, was er einmal war: eine besonders praktische, schnelle und leise Schreibmaschine.

NACHTRAG: Zufällig gerade entdeckt: Der Mythos des papierlosen Büros

07/19/12

„Du hast Dein Hobby zum Beruf gemacht“

Schreiben kann ja jeder. Und überhaupt macht es Spaß. Wie Stricken, Malen, Töpfern auch ist es eines der so genannten „kreativen Hobbies“ und unterscheidet sich also nicht vom Glückwunschkartenbasteln.
So ist wohl zu erklären, dass jemand mir neulich mit aufrichtiger Begeisterung fröhlich entgegenwarf: „Du hast ja Glück, Du hast Dein Hobby zum Beruf gemacht! Das möchte doch jeder!“
Was mir einen Stich in die Magengegend versetzte, war nicht der unüberhörbare Neid und die leichte Missgunst, die im Unterton mitschwang. Es war das Ausmaß des Missverständnisses, das sich dahinter verbarg, das ich ohne lange Ausführungen und im Rahmen eines normalen Gespräches nicht mehr aus der Welt schaffen konnte, es war die Lebenslüge, die sie bedeutete.
Ich schreibe schon mein ganzes Leben. Ich habe schon als Kind im Grundschulalter geschrieben. Das Schreiben als Hobby zu bezeichnen, würde mir allerdings nicht im Traum einfallen. Es ist ein tief verwurzeltes Bedürfnis, so notwendig wie Essen, Schlafen und Atmung. Es ist nichts Entspannendes oder Ausgleichendes. Es ist eine anstrengende, verzehrende Sucht, die einen gleichermaßen befriedigt und erschöpft. Dass ich schreibe, ist ein Zugeständnis, das mir das Leben abgetrotzt hat und auf der Einsicht beruht, dass ich das kann und dass andere mögen, was ich schreibe. Ich habe es mir nicht ausgesucht, die Natur hat es für mich getan.
Von Hobby keine Spur.

01/27/12

Freiheit und Jahresbeginn

Eine der schönen Seiten des Künstlerdaseins ist für mich die Tatsache, dass es mir ermöglicht, zumindest in weiten Teilen das Gefühl der Selbstbestimmtheit aufrechtzuerhalten, das ich in den letzten Jahren des Studiums als die für mich einzig richtige Lebensform entdeckt hatte. Objektiv betrachtet arbeitet man bei weitem nicht weniger, aber das Wissen um die Möglichkeit, die eigene Zeit frei einteilen zu können, fördert nicht nur die Kreativität, sondern in sehr erheblichem Maße auch die Qualität des Ergebnisses. Will ein Absatz nicht richtig gelingen – etwa nach einer schlechten Nacht, wegen ständiger Störungen durch Telefon und Türklingel -, kann man sich ohne schlechtes Gewissen dem Fensterputzen/Kelleraufräumen oder irgendeiner anderen hirnwindungenbefreienden Tätigkeit widmen: Am folgenden Tag wird man problemlos und ganz unbemerkt 18 Stunden ohne Pause schreiben, nachdem sich Frische und Inspiration wieder eingestellt haben. Arbeit wird so nicht als Zwang empfunden, denn sie folgt sozusagen dem eigenen Biorhythmus.
Die damit verbundene Unsicherheit sehe ich als den gerechten Preis dafür, dass ich meine Jugend so künstlich ins Unendliche verlängern darf und mir den Luxus leiste, das Erwachsenwerden einfach und mutwillig zu verweigern.
Diese Freiheit ist durchaus real, aber so märchenhaft sie sich anhören mag, sie ist natürlich nicht grenzenlos. Als Selbstständige mit Verantwortungsbewusstsein für das eigene Leben muss man auch die Aufträge feiern, wie sie fallen. Pläne über Bord werfen zu müssen, gehört ebenso dazu, wie es zu verstehen, die Balance zwischen Spitzenzeiten und zu ruhigen Phasen nicht nur auszunutzen, sondern auch zu genießen.
Die ersten Wochen des Jahres, die üblicherweise von Ruhe gekennzeichnet sind und eher dazu dienen, Zeitpunkt und Umfang von Werbemaßnahmen, von freiwilligen Projekten und Pflichtaufgaben in das noch fast jungfräuliche Terminbuch einzutragen, verliefen dieses Mal ganz unerwartet. Ein unangekündigter Großauftrag, den es zudem in einer unmöglichen Rekordzeit zu bewältigen galt, riss mich aus der genussvollen und bedächtigen Planungsphase unsanft in medias res.
In solchen Fällen verschwindet die Welt außerhalb des Auftrags völlig, das Leben steht still, was sich nicht zuletzt ärgerlicherweise in Form eines immer voller werdenden Wäschekorbs offenbart. Eine Nachtschicht jagt die andere, und wenn der Spuk endlich vorbei ist, liegt alles andere brach.

03/25/10

Umberto Eco und ich

Als wir uns vor sechseinhalb Jahren auf Wohnungssuche begaben, um den 32 m² ohne Küche zu entfliehen, die schon über ein Jahrzehnt unsere Wohn-, Schlaf- und Arbeitsstätte darzustellen bemüht waren, hatten wir es nicht leicht. Selbstständige – ob Freiberufler oder Künstler – sind in einer konservativen Studenten- und Beamtenstadt als Mieter nicht gerade erwünscht, geschweige denn gefragt, und wir mussten erleben, dass auch Immobilienmakler trotz vertrauenswürdiger Umsatzzahlen eine Zusammenarbeit nicht einmal in Erwägung ziehen wollten: Ohne eine Bürgschaft betuchter Verwandter war es kaum möglich, überhaupt zu einer Besichtigung zugelassen zu werden. Solche Verwandten hatten wir nun einmal nicht, und auch wenn wir sie hätten vorweisen können, hätten wir sie nicht gebeten, wir sind schließlich längst erwachsen.
Außerdem waren die wenigsten Vermieter für den Begriff „Wohnbüro“ oder „Heimarbeit“ wirklich zu begeistern. Zu betonen, es sei damit kein Publikumsverkehr verbunden und die Kontakte zu unseren Kunden würden ausschließlich per eMail stattfinden, erwies sich als müßig: Wer den ganzen Tag in der Wohnung sei, würde sie mehr abnutzen, als ein Mieter, der tagsüber auf der Arbeit sei. Einer solchen Argumentation hat man naturgemäß wenig entgegenzusetzen.
Zu allem Überfluss suchten wir eine Wohnung in der Innenstadt, die genau unseren Vorstellungen entsprach, sprich mit vielen Wandstellflächen, ohne Dachschrägen und unzählige Winkel – klare, lineare Strukturen, wie das TextLoft sie eben mag.
So beschlossen wir, mit Kleinanzeigen in den lokalen Tageszeitungen in die Offensive zu gehen.

Um neben den vielen anderen Paaren, die mit ihrem bequemen und sicheren Festangestellten-Dasein prunken und punkten konnten, überhaupt eine Chance zu haben, setzten wir auf Originalität und Ehrlichkeit. „5000 Bücher suchen ein Zuhause„, lautete die erste, fettgedruckte Zeile unserer Anzeige. Die Anzahl der Vermieter, die sich von diesem Geständnis berühren ließen, war zugegebenermaßen nicht überwältigend, und bis auf drei mehr amüsierte als wirklich interessierte Anrufer meldete sich lediglich ein älterer Herr, der in unserem Text die versteckte Botschaft entdeckt zu haben glaubte, Menschen, die so viel lesen, würden niemals, aber auch niemals Musik hören, und wir seien für sein spießiges Zwei-Familien-Haus, in dem sich nur auf Zehenspitzen bewegt wurde, ja geradezu perfekt.
Auch wenn der Erfolg ausblieb und wir schließlich über andere Wege das – so dachten wir es damals zumindest – Gesuchte fanden, steckte hinter dem vielleicht nicht ganz alltäglichen Text nicht nur Selbstironie. Wir besitzen tatsächlich so viele Bücher – inzwischen sind es natürlich einige mehr geworden.

Aus einem Grund, der mir bis heute schleierhaft geblieben ist, scheint diese Wahrheit aber grundsätzlich besonders unglaubwürdig zu sein. Nicht selten erlebte ich, wie Menschen, die uns zum ersten Mal besuchten, staunend vor unseren zahlreichen Bücherwänden standen und fragten: „Haben Sie die etwa alle gelesen?“. Immer wieder brachte mich diese Frage arg in Bedrängnis. Warum sollte ich denn Bücher kaufen, wenn ich sie nicht lese? Und warum war es überhaupt so verwunderlich, dass jemand gern liest? Oder traute man mir selbst einfach nicht zu, so viel zu lesen? Irgendwie empfand ich die Situation immer als etwas beleidigend, und noch ehe ich mich zusammenreißen konnte, wehrte sich mein Ehrgefühl ohne mein Zutun und wider besseres Wissen auf kindischste und überflüssigste Art, indem ich den dumm Fragenden mit dem ganzen Ausmaß der Wirklichkeit konfrontierte: „Ja, und ein paar Tausend mehr dazu. Das hier sind nur die wenigen, die ich gekauft habe“. Und jedes Mal aufs Neue ärgerte ich mich im selben Augenblick über mich selbst – darüber, dass ich mich einmal mehr auf dieses Narrenspiel eingelassen hatte, darüber, dass dieser Mensch mich dazu gebracht hatte, mich so zu benehmen, als hätte ich es nötig, ihm oder mir zu beweisen, ob oder wie belesen ich sei, darüber, dass ich mich dazu hatte provozieren lassen, mich wie ein Angeber zu verhalten – obwohl die Frage, wie viele Bücher ich je gelesen habe, für mich selbst als nicht im geringsten relevant einzuordnen ist. Tatsächlich könnte ich sie nicht annähernd beantworten, ich habe nie mitgezählt und wusste auch nicht, dass man es tun sollte.

Nach dem Einzug in die neue Wohnung änderte sich die Lage. Zum einen fällt die Menge der Bücher, die wir besitzen, dank großzügiger Wandflächen, puristischer Möblierung und der Verteilung auf eine größere Anzahl an Räumen optisch etwas weniger auf. Zum anderen ersetzte ich die früheren offenen Regale durch Bücherschränke und Vitrinen, was nicht nur einen besseren Schutz vor Staub bietet und eine Aufstellung der Sekundärliteratur „in zweiter Reihe“ ermöglicht, sondern auch durch das bloße Vorhandensein von Türen die für viele wohl erschlagende Wirkung von Tonnen von Papier geschickt umspielt und versteckt.
Außerdem kamen in den letzten Jahren nicht mehr so viele neue Besucher zum TextLoft, und unsere Bekannten haben sich mittlerweile so daran gewöhnt, dass sich bei uns alles um Bücher dreht – es sind sogar in der Küche welche zu finden, die nichts mit dem Kochen zu tun haben -, dass ich sehr lange Zeit diese wohl dümmste aller diesbezüglichen Fragen nicht mehr gehört und auch nicht mehr daran gedacht habe.

Bis mein Mann mich neulich mit einem Geschenk überraschte: Umberto Ecos Streichholzbriefe, bzw. ein Teil davon, von dtv unter dem Titel Wie man mit einem Lachs verreist und andere nützliche Ratschläge zusammengestellt. Es sind köstliche Texte, und ich verbrachte einen wirklich vergnüglichen und belohnenden Abend in ihrer Gesellschaft.
Eigentlich wäre ich niemals so anmaßend gewesen, zu denken, dass mich mit Umberto Eco mehr verbinden könnte, als die Tatsache, dass ich seine Bücher wie Oasen genieße, dass ich es liebe, in seine gepflegte Sprache einzutauchen, dass ich es bereue, niemals die Gelegenheit gehabt zu haben, einer seiner Vorlesungen in Semiotik beizuwohnen – was ohnehin schon daran gescheitet wäre, dass ich kein Wort Italienisch kann.
Doch dann war da dieser eine Streichholzbrief: „Wie man eine Privatbibliothek rechtfertigt“. Ich hatte mir bei dieser Überschrift nichts Konkretes vorgestellt und las einfach mit Genuss vor mich hin, aber plötzlich traute ich meinen Augen nicht, und ein Absatz ließ mich mit offenem Mund zurück, nachdem mein Herz beinahe ausgesetzt hätte: Tatsächlich berichtet Umberto Eco darin, wie Besucher und namentlich gebildete Personen, denen man nicht unterstellen könne, sie hätten in ihrem eigenen Alltag wenig Umgang mit Büchern, beim Anblick seiner die Wohnung beherrschenden Bibliothek ihn mit erstaunlicher Regelmäßigkeit fragen, ob er all die vielen Bücher auch wirklich gelesen habe.

Es konnte nicht sein. Mich fragt man das. In Ordnung. Ich bin ein Nichts. Ein Niemand. Eine Akademikerin unter vielen. Eine kleine Textarbeiterin mitten in irgendeiner Pampa. Gut. Angenommen. Vielleicht traut man mir wirklich nichts zu.
Aber er ist Umberto Eco.
Der Umberto Eco.
Wie kann jemand Umberto Eco genau die Frage stellen, die auch mir gestellt wird? Etwas passte nicht zusammen.

Nach der ersten Verblüffung, die eher als Schrecken daherkam, tröstet mich die Parallelität der Erfahrung aufs Innigste. Wenn der große Umberto Eco diese Frage – wie er sagt – mehr als einmal und von den unterschiedlichsten Leuten gehört hatte, dann konnte ich aufhören, beleidigt zu sein oder an meinem Image zu zweifeln. Offenbar gibt es eben solche Menschen, die das Lesen als so widernatürlich empfinden, dass ihnen nicht einmal einfällt, dass es anders geht.
In Münster und in Italien.
Überall.
Und ich werde Umberto Eco immer dafür dankbar sein, dass er mir das Selbstbewusstsein zurückgeschenkt hat, mich meiner Bibliothek trotz ihres Umfangs nicht mehr zu schämen.

02/8/09

Montags im TextLoft

Im TextLoft ist der Montag der erholsamste Tag der Woche.
Die lästigen Dinge wie Buchhaltung, Auftragsverwaltung und Korrespondenz wurden am Wochenende pflichtgemäß erledigt, der Schreibtisch glänzt jungfräulich. Das TextLoft ist blank geputzt, makellos aufgeräumt, alles riecht frisch und unbeschwert. Selbst im tiefsten Winter kommt das Gefühl von Frühling auf. Es ist ein Tag ohne Altlasten. Die lange Woche erstreckt sich noch frei wie ein einladender Waldweg in Richtung Zukunft vor einem, euphorische Stimmung mutet nach Urlaub an. Es ist die Freude über das weiße leere Blatt – die Möglichkeiten scheinen unendlich. Kindliche Inspiration, eifriger Überschwang ergreifen Papier und Tastatur.
Meist bleibt es über den ganzen Tag ruhig, neue Aufträge beginnen erst wieder dienstags den elektronischen Briefkasten zu füllen. Es ist Zeit, in aller Muße dem Rotkehlchen und der Wühlmaus zuzuschauen, die in der Krokusblüte eingeschlafene Hummel zu beobachten, Zeit aufzuatmen und sich des Lebens zu freuen.

02/1/09

Eine andere Zeitrechnung

Es herrscht im kreativen Raum von TextLoft eine andere Zeitrechnung, als in der Welt da draußen üblich ist. Und dies gilt sowohl im kleinen als auch im großen Maßstab.

Welchen Monat wir schreiben, weiß ich immer, zugegebenermaßen.
Nicht zuletzt, weil die Jahreszeiten, die an der großen Glaswand meines Arbeitszimmers vorbeiziehen, und ihre Begleiterscheinungen – der Wechsel des Lichts, das Blühen der ersten Tulpen, das badende Rotkehlchen, die Schwere der Geräusche in der Hitze, die nervöse Spannung der ersten Schneeflocken – für mich nicht einfach Nebensache sind. Sie sind mir wichtig, so lebenswichtig wie Atmen und Trinken.

Damit ist es um die kalendarische Genauigkeit aber auch schon geschehen. Es wäre meist ein Fehler und äußerst vergeblich, mich nach dem Tag oder dem Datum fragen. Eine solche Gliederung der Zeit ist im TextLoft fremd. Erkennbare Punkte heißen nicht „Montag“, und auch nicht „der soundsovielte Januar“. Erstreckt sich ein Auftrag etwa über zwei Wochen, besteht dieser Zeitraum aus jenen kleineren Welten, die jeweils für sich abgeschlossen sind: „Projektbeginn“, „Konzept“, „Schreiben“, „Korrekturlesen“, „Abgabetermin“. Welchen Namen oder welche Nummer jeder Tag dabei haben mag, ist nicht relevant. „Tag 3 des Schreiben-Blocks“ ist dagegen sehr wohl ein Begriff, der das Leben wirksam und fühlbar rhythmisiert. Pünktliche Lieferung ist in diesem Kalender das einzige gültige Datum.

Der Tagesablauf ist hier auch nicht das, was der sogenannte brave Bürger aus dem sprichwörtlichen Bilderbuch sich als „normal“ und gewöhnlich vorstellt, und beginnt im TextLoft erst zur landestypischen Fernsehzeit. Die Stille der Nacht unterbricht kein Telefonat, kein Eintreffen von eMails, kein Kundengespräch, konzentriertes Arbeiten ohne jede Störung wird endlich möglich. Bis 3 Uhr brennt das Licht einsam und produktiv – manchmal auch etwas länger, wenn Ideen sich unbeherrscht tummeln und den Schlaf verdrängen.
Dies hat Folgen.
Wer im Winter versucht, vor Mittag Textloft telefonisch zu erreichen, hat Glück im Unglück und darf sich angeregt, wenn auch einseitig, mit dem Anrufbeantworter unterhalten. Im Sommer kann er etwas früher mit einem persönlichen Gespräch rechnen – dem Licht und der morgendlichen Kühle sei Dank -, aber verlassen sollte er sich darauf nicht: Es ist kein Zufall, wenn meine Homepage die Öffnungszeiten mit lakonischen „14:00 bis 22:00 Uhr“ angibt. In der schönen Jahreszeit ist es zwar schade um die Sonnenaufgänge, um die klare Luft in der ersten Stunden des Tages, wenn es heiß zu werden verspricht und das Gras noch feucht und einladend riecht, aber sie sind die Kopfschmerzen nicht wert, mit denen mangelnder Schlaf bestraft wird.

Diese etwas unkonventionelle Lebensart, in der das Mittagessen in die frühen Abendstunden verlegt wird, ist nicht gewollt, nicht Image, nicht Pose, nicht Protest, nicht Ablehnung, nicht System. Sie ist Symptom. Für eine natürliche Andersartigkeit des Denkens und des Seins. Für den Freiraum, den Kreativität braucht, um sich zu entfalten. Für die Enklave, in der Texte leben.

01/29/09

Frei, beruflich

„Du hast aber auch nie frei“, meinte eine Bekannte neulich und durchaus vorwurfsvoll, als ich wegen der Arbeit an einem bestimmten Projekt eine wirklich liebenswerte Einladung ausschlug. Diese Bemerkung habe ich so oft gehört, dass ich sie nicht einmal mehr wahrnehme.
Sollte ich darüber nachdenken? Habe ich wirklich nie frei?

Nun, der Schreibende kennt in der Tat keinen Feierabend, keine Wochenenden und kaum Feiertage. Zum einen muss er zuweilen eben die Arbeit feiern, wie sie fällt – die wirtschaftlichen Zwänge machen es unumgänglich. Zum anderen hört das Schreiben mit dem Abschluss eines bezahlten Auftrags nicht auf: Der Krimi will weiter geschrieben werden, Korrespondenz liegt an, das Blog wartet, Werbetexte zur Erweiterung des Kundenkreises sind auch wichtig und müssen regelmäßig aktualisiert und variiert werden. Sieht man von Notwendigkeiten wie Essen und Trinken ab, wären da noch die unvermeidliche Buchhaltung, die haushaltsbezogenen Aufgaben. Der Tag ist nicht lang genug, und nach außen hin besteht er natürlich ganz aus Pflichten.

Die Freiheiten des Schreibenden liegen sicher nicht in der Anzahl oder der Regelmäßigkeit der Pausen und Mußestunden.
Der Unterschied zu der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung besteht darin, dass der Schreibende nicht frei hat, sondern frei ist. Kommt mir mitten in der Nacht ein Gedanke, den ich weiterverfolgen möchte, darf ich es mir leisten, bis zum Tagesanbruch zu schreiben – ich muss nicht um 8 Uhr fit und aufgeräumt am Schreibtisch sitzen und kann den versäumten Schlaf, wenn es sein muss, bis in den frühen Nachmittag nachholen.
Überhaupt muss ich gar nichts.

Dieses Nichtsmüssen ist ganz sicher die größte Form der Freiheit, die man sich als Berufstätiger vorstellen kann. Ich muss einen Kunden nicht mögen, ich muss es ihm nicht einmal der Firmeninteressen wegen vorspielen, ich muss seinen Auftrag auch nicht annehmen – ich habe die Wahl, lieber zu hungern, wenn ich es möchte und mir meine Prinzipien aus welchen Gründen auch immer wichtiger sind. Ich muss niemandem gegenüber höflich sein, wenn ich es nicht für angebracht halte: Auftraggeber kommen und gehen, ich muss nicht über Jahre hinweg künstlich die Beziehung zu einem verhassten Vorgesetzten aufrechterhalten. Ich muss nicht aus dem Haus, wenn es draußen stürmt und schneit. Ich muss mich nicht in Büroschick zwängen, wenn mir nach dem kuscheligen Hausanzug ist oder im Sommer das Thermometer auf 40° im Schatten klettert. Ich muss nicht dann essen, trinken und schlafen, wenn es der Stundenplan oder das bürgerliche Empfinden vorsehen. Und sollte durch irgendein Wunder der monatliche Umsatz schon nach zwei Wochen gesichert sein, muss ich niemandem außer mir selbst erklären, warum ich weitere Projekte ablehne und es mir im Freien gemütlich mache. Ich muss das Telefon nicht abheben, wenn ich etwas Besseres vorhabe. Ich muss meine Arbeitszeit nicht absitzen, wenn die Sonne lockt – schreiben kann ich draußen oder in der Nacht.

Ich weiß nicht, ob man wirklich frei hat, wenn man mit der Stumpfsinnigkeit des pawlowschen Hundes jeden Samstag und Sonntag lediglich „nicht ins Geschäft“ muss, wenn man jeden Tag um 17 Uhr nach Hause darf, sich jeden Morgen um dieselbe Zeit aus dem Bett quälen soll … Diese Art von Freiheit wäre nichts für mich. Ich möchte vermutlich gar nicht freihaben. Frei sein ist mir wichtig.

Nachtrag vom 13.02.09
Zu diesem Thema möchte ich auf eine interessante Diskussion über den offenen Brief eines Freien verweisen.

01/7/09

Stressfreie Adventzeit

Dass der Schreibende zuweilen etwas „anders“ lebt, erkennt er selbst oft nur im direkten Vergleich. Feiertage und ihre Begleiterscheinungen sind hierzu ein besonders auffälliges Kriterium.
Die Adventzeit ist angebrochen. In meinem Bekannten- und Freundeskreis macht sich gestresste Stimmung breit. Familienessen, Firmenfeiern, Einladungen, Besuche werden partnerschaftsgefährdend und wider besseres Wissen synchronisiert, geplant und erahnt. Geschenke müssen gekauft und ansprechend verpackt, Karten ausgesucht und geschrieben werden. Fleisch- und Süßigkeitenberge werden bestellt und gehortet, Traditionen mit abergläubischer Akribie eingehalten, als hinge das künftige Wohlergehen von Generationen davon ab. Gereizte, lästige Vorfreude schwankt zwischen pubertär-anarchistischer Ablehnung, resignierter Überforderung und narzisstischer Detailverliebtheit. Der Baum, die Gans, die Kugeln, die Lieder, die Geschenke, die Schleifen, die Karten, die Aufkleberchen auf den Umschlägen, die Geschenkanhänger, die Sitzordnung, die Termine, die Extrapfunde, das Einkaufen, die überfüllten Geschäfte, die Schlangen an den Supermarktkassen, das pflichtgemäße Keksebacken, die angestrebte Harmonie, das hühnerbatterieähnliche Zusammenhocken, der Erfolgsdruck, an welchem Tag bei wem welcher Kuchen … – und haben wir denn wirklich alles? Nervenaufreibendes, soweit der Advent reicht. Ganze Terminkalenderseiten werden je nach Temperament in allen Richtungen hektisch vollgekritzelt oder neurotisch gegliedert.
In meiner näheren Umgebung gibt es auch viele Verleugner. „Wir machen dieses Jahr gar nichts“ ist für gewöhnlich die psychologisch hilfreiche Umschreibung für: „Ich-habe-drei-Dosen-Plätzchen-gebacken-zwei-muss-ich-noch-hinkriegen-da-ist-aber-auch-das-Krippenspiel-der-Kinder-in-der-Schule-oje-meine-Schwiegermutter-kommt-und-bleibt-eine-ganze-Woche-hoffentlich-ist-die-Gans-grösser-als-letztes-Jahr-da-hat-sie-kaum-gereicht-und-Geschenke-für-Eva-Klaus-und-Peter-habe-ich-auch-noch-gar-nicht-das-Geschenkpapier-muss-ich-noch-besorgen-und-die-Karin-muss-ich-noch-unbedingt-vor-den-Feiertagen-auf-einen-Tee-einladen-und-eigentlich-bin-ich reif-für-die Wellness-Farm-aber-ich-bin-ja-so-tapfer-und-so-tough-und- verdränge-das-jetzt-alles-und-überhaupt-mache-ich-das-so-gern-für-meine-Lieben-und-wenn-alles-nichts-hilft-kann-ich-immer-noch-zusammenbrechen-hach-was-freue-ich-mich-das-wird-sooo-schön.“
Ja, alle freuen sich. Irgendwie. Klar, es ist viel Arbeit. Aber es ist schließlich Weihnachten. Also ist es auch besinnlich. Irgendwie eben.

Das Schreiberleben hat viele Nachteile. Es gibt keinen bezahlten Urlaub, keine Vermögenswirksamen Leistungen, es ist sozial unreif und prekär.
Aber in solchen Zeiten genieße ich es in vollen Zügen, das hart erkämpfte Vorrecht des Bohemiens auf Andersartigkeit ausleben zu können und zu dürfen.
Von mir werden keine bürgerlichen Werte, kein „normales Verhalten“ erwartet. Es gibt kaum eine Zeit des Jahres, in der ich mich so frei fühlen darf. Adventkaffees mit monatelang vernachlässigten Freunden gibt es nicht; ein Abend an einem ohnehin trüben Novembertag genügt, um Herr der Kartenpflicht zu werden – zugegeben: Schreiben ist mein Beruf, ich habe es da wohl etwas leichter. Die Deko ist nach wenigen Handgriffen erledigt – schließlich muss sie nur mir gefallen und erhebt keinen Anspruch auf repräsentative Darstellung.
Auch die Feiertage sind geruhsam. Es gibt keine ermüdenden Autofahrten, kein gemeinsames Musizieren unter dem Weihnachtbaum, keinen langen, zwanghaft in rot-grün-gold mit Rentierporzellan dekorierten Esstisch, kein Fünf-Gänge-Menü, keine Pflichteinladungen verhasster Verwandtschaft; der Weihnachtbaum misst gerade mal 60 cm und kommt alle Jahre wieder in Sekundenschnelle aus seinem Pappkarton; ich stehe nicht stundenlang bangend und schwitzend in der Küche: Das Essen liefert ein Delikatessenversand, und nach Entnahme aus der Dose und 20 Minuten im Ofen sind Rebhuhnkeulchen, Füllung, Sößchen und Trüffelravioli so fertig und schmackhaft wie nur möglich – nur für zwei und ganz ohne mein Zutun. Die Geschenke habe ich meist bereits im Sommer an einem einzigen Nachmittag gekauft und verpackt. Das Aufkleben der Adressen auf die Päckchen kann nicht als Arbeit bezeichnet werden, ein hilfreicher Bote bringt sie zur Post.
Ich bin frei. Ich beobachte die allgemeine Hektik, ich höre mir Klagen, Sorgen, Nöte, Probleme und Aufgabenlisten an und finde in diesen besonderen Wochen des Jahres dadurch zu einer Erholung, wie sie sonst nur der schönste Urlaub bietet. Auch wenn sich hin und wieder einige Pflichten einschleichen, sind sie sehr selten und halten sich in einem erträglichen und mit meiner Aufrichtigkeit zu vereinbaren Maß, sie sind nicht lästiger oder zeitraubender als das Ausfüllen einer Steuererklärung.
Die Erleichterung, die Freiheit, wird körperlich spürbar. Während andere in Planungen und Familienangelegenheiten vergehen, verbringe ich Zeit damit, dem Rotkehlchen bewusst zuzusehen, folge vom Schreibtisch aus der Bewegung des Windes und der Wolken, stehe nachts auf dem eiskalten Balkon und genieße den Anblick der Sterne am klaren Himmel.
Es ist eine erholsame Zeit. Pflichttermine für das kommende Jahr werden in den neuen Kalender eingetragen, die Buchhaltung wird in Ruhe zum Abschluss gebracht, die Aufträge können ohne Störung archiviert werden – entspanntes Warten auf den Frühling beginnt mit dem süßen Nichtstun. Das Telefon bleibt für gewöhnlich still – alle sind ja sooooo beschäftigt.
Der Advent ist eine warme Bresche in der Zeit, losgelöst. Für mich allein stressfrei.

10/30/08

Zu normal zum Schreiben?

In ihrem gleichermaßen informativen wie unterhaltsamen Artikel „The Author’s Dilemma: To Blog or Not to Blog“ beschreibt Claire E. White im Internet Writing Journal die Verwunderung einiger Autoren über das Interesse ihrer Leser an ihren Blogeinträgen im Allgemeinen und ihrem Privatleben im Besonderen: „Some authors seem surprised that readers would like to hear about their daily battles with the cable company, their root canal or their impending hot date„.

Wer schreibt und dies zugibt, wird in der Tat sehr schnell durch die eigene Umgebung mit der Frage konfrontiert, ob Schreibende etwa „anders“ leben. Mit dem Begriff „anders“ werden alle Bereiche des Alltags etikettiert: Steckt in dem Klischee der schreibenden Boheme vielleicht ein Fünkchen Wahrheit? Wie soll man sich die Situation des Zuhausearbeitens denn überhaupt vorstellen? Wie ist es, vor einem leeren Blatt zu sitzen, wenn einem nichts einfällt – gibt es das wirklich? Wo kommen die Ideen her?
Filme und Fernsehen bedienen ja im Überfluss ein fantasieanregendes Image: ungeduscht und rauchend sitzen Schriftsteller in einem vor Zetteln und zerlesenen Büchern überquellenden Zimmer im Schlafanzug vor dem Bildschirm, liegen trunken, hadernd und kämpfend, an der Whisky-Flasche festgekrallt in schummerigem Licht auf abgewälzten Couchs, verbringen Stunden kritzelnd in Cafes, gehen ins Bett, wenn die Sonne aufgeht, vergessen vor lauter Kreativität, dass Post und Rechnungen den eigenen Briefkasten verstopfen und sich Müll in der Küche stapelt, essen im Stehen direkt aus der Konservendose, bestenfalls aus dem Topf. Chaotisch geht es zu, verhärmt und vereinsamt, ökonomisch und gesundheitlich desaströs, exaltiert künstlerisch bis weltfremd verklemmt.

Wie sehr sich solche Bilder in der allgemeinen Vorstellung festsetzen, wurde mir zum ersten Mal bewusst, als eine flüchtige Bekannte, mit der ich geschäftlich und daher lediglich telefonisch und per eMail zu tun hatte, mich zum ersten Mal zu Hause aufsuchte.
Sie sollte bei mir einen Briefumschlag abholen, wobei wir keine feste Uhrzeit vereinbart hatten. Von dem „späten Nachmittag“ war die Rede gewesen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie wirklich kommen würde, denn sie klang oft sehr beschäftigt. Gegen 17 Uhr klingelte es tatsächlich. Sie stürmte etwas gehetzt herein, erzählte, sie parke in zweiter Reihe vor dem Haus (in unserem Viertel ein Dauerzustand) und sei zu einem weiteren Termin unterwegs, und schlug bereits im Flur den Kaffee aus, den ich mich anzubieten anschickte. Sie wolle nur rein und raus, meinte sie hektisch-dynamisch und zeitgemäß überlastet, während sie versuchte, eine hartnäckig immer wieder in ihre Stirn zurückfallende Strähne wieder in Ordnung zu bringen. Um ihrem Zeitdruck gerecht zu werden, bat ich sie also in den Raum, in dem ich mich gerade aufhielt, und zufällig war das mein Arbeitszimmer. Als ich ihr den Briefumschlag überreichen wollte, der der eigentliche Anlass ihres Besuches war, merkte ich erst, dass etwas nicht stimmte. Ihr entsetzter Blick wanderte umher und ihr halb offener Mund zeugte unmissdeutig von Verblüffung. Sie schien, krampfhaft nach etwas zu suchen, und ich selbst begann, mich verunsichert umzuschauen, um zu ergründen, was sie so aus der Fassung gebracht hatte, als er aus ihr herausbrach: „DAS ist Ihr Arbeitszimmer??“
Die Frage kam aus dem Grunde überraschend, dass mir nicht ganz klar war, worin die Zweifel darüber bestehen könnten. An einer Wand ist ein dreiteiliger französischer Bücherschrank aufgestellt, zwei weitere Bücherregale und eine Büchervitrine stehen an zwei der anderen Wände, ein großer Sessel kuschelt sich an das riesige Balkonfenster, ein Semainier mit Schreibwaren und Notizbüchern thront auffällig in einer Ecke, und der größte Platz im Raum wird von einem ganz gewöhnlichen, nicht besonders ansehnlichen Schreibtisch eingenommen, auf dem Computer, Telefon und Terminkalender zu sehen sind. Hier gibt es weder Fernseher noch Stereoanlage, keine Couch, keine Anrichte mit Geschirr, nicht einmal einen noch so kleinen Tisch für einen Kuchenteller, und bis dahin hatte ich nicht vermutet, dass die Nutzung des Raums auf irgendeine Weise missverständlich sein könnte.
An meinem unsicheren „Ja“ merkte sie wohl, dass ich ihre Frage nicht ganz nachvollziehen konnte:
„Ich hätte gedacht, bei einem Menschen des Textes wie Ihnen liegen überall Bücherstapel herum und man muss sich zwischen Bergen von Papier durchkämpfen, und der Schreibtisch ist voll und man findet nichts mehr drauf!! Das habe ich mir aber ganz anders vorgestellt!!!“
Die Art, wie sie das Wort „gaaanz“ betonte und in die Länge zog, ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig, ich konnte an ihrer Stimme hören, wie sich die Ausrufezeichen blitzschnell aneinanderreihten. Sie war nicht nur überrascht, sie war schockiert. Ihre Welt war zusammengebrochen. Ohne dass ich so recht hätte sagen können, warum, war mir die Situation auf einmal sehr peinlich: Ich fühlte mich ertappt, ohne zu wissen, wobei, und es beschlich mich das unbestimmte, unangenehme und übermächtige Gefühl, ich müsste mich entschuldigen, was ich auch ernsthaft verlegen tat. Aber auch das konnte den ersten Eindruck nicht wiedergutmachen, den sie von mir bekommen hatte: Sie war zutiefst enttäuscht, und ich sah ihr an, dass sie sich fragte, ob ich nun überhaupt wirklich schreiben könne – war doch bei mir alles so entsetzlich unspektakulär, langweilig normal, ja geradezu bürgerlich aufgeräumt.

Solche ernüchterte Reaktionen habe ich seitdem oft erlebt – und jedes Mal ist es mir aufs Neue aufrichtig unangenehm, den Klischees nicht zu entsprechen, die das kollektive Bewusstsein mit dem verbindet, was ich tue; jedes Mal fühle ich mich aufs Neue ertappt und stammele hilflos eine wirkungslose Ausrede.
Zugegeben, das Leben eines Beamten führe ich nicht wirklich: Ich gehe dann ins Bett, wenn die meisten Bäcker aufstehen, vor Mittag ist mit mir daher nicht zu rechnen; und wenn ich an einem Projekt arbeite, vergesse ich schon mal, zu essen, oder welcher Tag gerade ist. Aber da hört das Bohemehafte auch schon fast auf.

Die bereitwillige Aufnahme von Autorenblogs, wie sie Claire E. White darstellt, macht den grundsätzlichen Spagat deutlich, der durch die der Fiktion entsprungenen Vorstellungen geschlagen wird: Der Neugier für das Ungewöhnliche, das Spannende, das dem Alltag des Schreibenden primär unterstellt wird, steht das Bedürfnis nach voyeuristischer Normalität und Entzauberung ausgleichend gegenüber. So rät Claire E. White:
Of course, some authors are better at blogging than their peers. One author can make a trip to the grocery store sound interesting, while another might have flown to the International Space Station as a space tourist and manage to make a dull story of it. It’s not what you blog about, it’s how you blog. Write from the heart, write about what interests you and chances are it will interest your readers as well.
[…]
Many authors complain that they don’t have anything to say, that their lives aren’t that interesting on a day to day basis. But that’s entirely the point: it’s not your life that has to be interesting. But how you write about it must be interesting.“

Weil Schreiben eben etwas ganz Normales ist.