03/6/21

Das Frühstück der Ruderer

Zu den Vorzügen meiner Kindheit gehörte, dass ich in der präschubladischen Ära groß werden durfte, was ich rückblickend sehr zu schätzen weiß. Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Meine Urgroßeltern waren allesamt nicht Landwirte, sondern Kleinstbauern (die angemessene Bezeichnung wäre vermutlich „Selbstversorger“), meine Mutter hatte mit 14 Jahren die Schulbank gegen eine Schneiderlehre getauscht, mein Vater war mit 11 aus dem Familienumfeld gerissen, und ohne dass nach seinen Wünschen gefragt worden wäre, auf eine Kadettenschule geschickt worden, und war am Tage meiner Geburt, der meine bis dahin als Supermarktkassiererin arbeitende Mutter für den Rest ihres Lebens zur Hausfrau machte, eine Art Bürobote, was er noch einige Jahre bleiben sollte. Dass ich zur Literaturwissenschaftlerin und Kunstliebhaberin werden sollte, war alles andere als vorgezeichnet, denn ich stamme nach heutigen Maßstäben aus einer „armen“ und „bildungsfernen“ Schicht – nur wussten wir es damals nicht, weil es solche Etiketten nicht gab, und so ging ich meinen Weg, ohne mich darum zu kümmern und ohne zu ahnen, dass ich weniger Chancen hatte als andere. Tatsächlich habe ich es nie gemerkt oder gespürt, und meine Biographie spricht dafür, dass es nie so war.

Dementsprechend war es auch nicht selbstverständlich, dass ich mit Dingen der Kunst überhaupt in Berührung kam. Meine Eltern besaßen keine Bücher, Geld für Museumsbesuche wäre nicht vorhanden gewesen. Die Malerei entdeckte ich zufällig dank einer schokoladensüchtigen Großfamilie aus der Nachbarschaft, deren fünf Kinder über Monate eifrig Sammelpunkte aus Schokoladentafel-, Kakao- und Schokoladenkeksverpackungen ausschnitten, bis sie ein kleines Sammelalbum gefüllt hatten, einschickten und das entsprechende Geschenk bekamen: Es war eine spielkartengroße Schachtel voller Kärtchen zu allen möglichen berühmten Werken europäischer Malerei. Sie hatten kein Interesse daran, und ich bekam das wertvolle Päckchen, mit dem ich mich glücklich stundenlang beschäftigte und das ich wie einen Schatz hütete. Auf der Vorderseite einer jeden Karte war das Gemälde abgebildet, auf der Rückseite standen Titel, Künstler, eine kurze Biographie und Genreerklärung.
Ich war 6 Jahre alt, und dieses Werbegeschenk eröffnete mir ein fantastisches und offenbar unerschöpfliches Universum, das ich nie mehr verlassen sollte.
Wie Kinder nun einmal sind, kümmerte ich mich kaum um ein ausgewogenes und objektives Urteil, und schnell hatte ich – ein für allemal, wie ich damals dachte – insgeheim entschieden, welche Maler und welche Genres ich mochte und welche nicht. Turner, Watteau, Sisley, Constable, Gainsborough, Le Nain, Degas, Monet, Rembrandt, Chardin etwa liebte ich ebenso innig wie die Stilleben der holländischen Meister. Cézannes Pfirsiche gefielen mir, seine Porträts allerdings überhaupt nicht, bei seinen Landschaften war ich mir nicht sicher, was ich davon halten sollte, denn seine Bäume waren in Ordnung, aber ich mochte keine Berge, und seine graue Nemesis traf bei mir auf achselzuckende Gleichgültigkeit. Toulouse-Lautrecs Werke fand ich gruselig bis abstoßend, Delacroix, Redon und Manet langweilten mich. Von Van Gogh und Picasso dachte die Unschuld meines Unwissens spontan, dass sie nicht malen konnten, und Renoirs Bilder fand ich wegen der vielen Pinktöne, der allgegenwärtigen Üppigkeit und der zu rosigen Bäckchen schlicht nur peinlich und kitschig.
Ein Gemälde jedoch faszinierte mich, und meine kindlich resolute Schwarz-Weiß-Sicht der Dinge konnte sich nicht erklären, wieso. Immer wieder griff ich zu der kleinen Karte: Ich konnte die Augen nicht davon lassen und konnte zugleich nicht glauben, dass das, was ich sah, wirklich von dem Mann stammen sollte, der so übertrieben adrette Mädchen auf Schaukeln, ordinär herausgeputzte Koketten oder Gärten voller unrealistischer Blütenpracht dargestellt hatte. Das Frühstück der Ruderer zog mich immer wieder in seinen Bann. Ich wusste nicht, warum, und ich konnte nichts dagegen tun.

Mit den Jahren, der damit unvermeidlichen Reife und mit zunehmender Bildung veränderte sich naturgemäß mein allzu undifferenziertes Urteil, und meine Meinung zu vielen Künstlern gewann selbstverständlich schnell und deutlich an Milde und Verstand.
Doch sollte es noch viele weitere Jahre dauern, bis ich begriff, warum ich zu diesem Werk, dessen Thema mich nicht einmal interessierte, das ich nicht einmal wirklich schön fand, eine so unerklärliche Verbindung gespürt hatte. Erst vor einiger Zeit, als mir das Bild, an das ich länger nicht mehr gedacht hatte, anlässlich einer Recherche zufällig wieder begegnete, wurde es mir auf einmal klar: Das Frühstück der Ruderer ist eine Momentaufnahme voller Geschichten. Es ist voller Geräusche und voller Lärm, voller Stimmen und Dialoge, voller Düfte und Gestank, voller Hitze und Wind, voller Lachen und Streit, voller Intrigen und Neugier, voller Fragen und Rätsel. Es ist Raum, Atmosphäre – es ist Text.

Zu den Bildern, die ich gerne besitzen würde, gehört es nach wie vor nicht. Aber heute weiß ich, dass ich an dem Tag, an dem ich dieses Kärtchen in Händen hielt, zum ersten Mal schrieb – ohne Stift, ohne Papier, ohne Worte zwar, aber ich schrieb. Was ich spürte, war, was mein Leben werden sollte. Daran zurückzudenken ist nicht schön, nicht rührend oder bestätigend, sondern vielmehr erschreckend. Es zeigt, wie unausweichlich Kunst bestimmen kann, was wir sind und werden, und wie wenig wir in dieser Gleichung zu sagen haben. Kunst und Schreiben habe ich mir nicht ausgesucht. Ich kann nicht anders – ob ich will oder nicht.

04/7/15

Wörter und Bilder

Zu den bekanntesten Seiten der Weltliteratur gehört zweifelsohne Romain Rollands Beschreibung seines kindlichen Verhältnisses zu Wörtern und den Bildern und Empfindungen, die er mit ihnen verband. Beeindruckend ist diese Erzählung nicht nur wegen der Prägnanz, mit der die Entstehung von Assoziationen in der frühen Vorstellungswelt eines sehr jungen Menschen geschildert wird, und die jede linguistische Abhandlung zu diesem Thema in wenigen Zeilen überflüssig macht. Verblüffend ist sie, weil jeder, der sich im Erwachsenenleben beruflich dem Schreiben widmet, diese Momente auf sehr ähnliche oder gar identische Weise erlebt hat und sich lächelnd in die eigene Vergangenheit zurückversetzt fühlt.

Wenn auch mit dem natürlichen und akademischen Reifeprozess manche Aspekte dieser innigen Beziehung zum Wort sich verändern mögen, so bleibt diese Art von Freundschaft zu dem, was nun weniger Wunder denn Werkzeug wurde, bis zu einem gewissen Grad erhalten. Bestimmte Wörter werden zu Begleitern, zu einem vertrauten Zuhause, zu einem Sinnbild unserer selbst, zu einer Projizierung einer Welt, wie wir uns wünschen, dass sie sein könnte.

Ein solches Wort, das ich nicht missen möchte, weil ihm für mich eine unvergleichliche Schönheit innewohnt, ist das Wort „Aufzeichnungen”.

Was mir an ihm so gefällt, ist zunächst, dass es so reizend altmodisch ist. Natürlich kann man auch in Bezug auf elektronische Daten, Ton- oder Filmaufnahmen von Aufzeichnungen sprechen. Was ich aber in diesem Wort sehe, wenn ich es höre, lese oder schreibe, ist etwas ganz anderes.

Ich sehe die Tagebücher von Abenteurern, Naturforschern, Anthropologen, Ethnologen und Archäologen, die akribisch, aber auch voller Respekt, Neugier und Bewunderung die Welt nachzuzeichnen versuchten, die sie mit Staunen entdeckten.
Ich sehe die sorgfältig geführten Chroniken von Zeitzeugen, die im Kerzenschein längst vergangener Jahrhunderte ihre Feder in schmutzige Tintenfässchen tauchten, um das für sich und andere festzuhalten, was ihre Gegenwart unserer Geschichte schenkte, um Erlebtes zu begreifen und zu vermitteln.
Ich sehe all jene, die ihren vermeintlich unbedeutenden Alltag niederschrieben und unbewusst und ungewollt zu historischen Quellen wurden.
Ich sehe die Reisenden, die uns Unbekanntes nahebrachten und unsere Träume beflügelten.
Ich sehe Abermillionen von Seiten, wunderschöne ruhige Handschriften, hektische Skizzen, detailreiche Zeichnungen, ein Kompendium unseres Wissens und unserer Geschichte.

Selbst wenn die aktuelle Form der Aufzeichnung, das Blog, sich weder Papier noch Tinte als Medium ausgesucht hat, mag ich es für das, was es darstellt: Es setzt das Bedürfnis des Menschen fort, zu bewahren.

Meine Vorstellung hat ein für alle Mal beschlossen, in der Aufzeichnung das idyllisch-kitschige Bild eines handschriftlich geführten Notizbuchs zu sehen. Dieses Wort ist für mich deshalb so wunderschön, weil es eine dokumentarische, differenzierte, gleichermaßen analytische und synthetische Ruhe ausstrahlt. Es verkörpert den Rückzug, die wohlwollende Distanz, das Innehalten, die objektive und zurückhaltende Demut, die ich als die eigentliche Aufgabe des Schreibens betrachte. Aufzeichnungen sind die Übertragung einer Momentaufnahme auf Papier. Sie sind das, was Schreiben sein sollte.

11/21/14

Aufregende Zeiten

Im TextLoft hält die herbstliche Aufbruchstimmung an.

Neue Projekte sind manchmal mit Nervosität und Zweifeln, bzw. Selbstzweifeln verbunden, aber auf dieses freue ich mich ganz besonders und ich bin sogar zugegebenermaßen ein wenig stolz darauf: Die MUSTERBÜCHER gehen diese Woche an den Start.

Als Präsentationsmappe mit Texten zu unterschiedlichen Themenbereichen sollen sie, wie der Namen schon verrät, Beispiele meiner Arbeit wiedergeben, aber es ist nur ein Teil ihrer Funktion.
Sie sind vor allem ein im deutschen Sprachraum erstmaliges Text- und Blogexperiment: Die Texte werden hier nicht nach Themen, Gattungen oder Zielgruppen gegliedert vorgestellt, sondern nach Farben, genauer gesagt, nach den Farbassoziationen, die sie im Unterbewusstsein den Lesers hervorrufen.
In dieser Hinsicht sind die MUSTERBÜCHER die praktisch gelebte, greifbare Ergänzung zum theoretischen Konzept des Textes als Bild und fungieren als Scharnier zwischen TEXTLOFT und dem Text- und Schauraum KUNST:TEXT.

Die MUSTERBÜCHER sind nicht nur ein schlüssiges und solides Projekt, sie sind auch ein euphorisierendes und spannendes Abenteuer, das in seiner Einmaligkeit neue Perspektive der Textbetrachtung eröffnen wird.

Das TextLoft bereitet sich also auf aufregende Zeiten vor …

07/28/13

Sommerzeit

Der Sommer ist im TextLoft wider Erwarten immer eine aufregende Zeit.
Dabei deutet zunächst nichts darauf hin. Viele Stammkunden gönnen sich eine Pause und entfliehen für ein paar Wochen dem Alltag, der eingespielte Rhythmus aus Aufträgen und Anfragen wird langsamer – als ließe er sich von Wärme und Sonne anstecken und wollte er sich herausnehmen, nach eigenem Gutdünken dahinzuplätschern und der allgemeinen Trägheit zu folgen. In der Tat könnten es ihm die Tage gleichtun und niemand würde sich darüber wundern. Am Abend, wenn Meisen und Amseln des Badens müde sind und die Terrasse freigeben, die für die kommenden Stunden zum Schreibplatz werden darf, tragen allenthalben fröhliche Stimmen, Gelächter und Musik den Duft von Holzkohle, noch heißem Kuchen und Gegrilltem ins Loft, Leben und Schreiben fühlen sich leicht an. Federleicht.
Doch die euphorische Unbeschwertheit verführt nicht nur zum Träumen. Es ist der richtige Moment, Bilanz zu ziehen, die kommenden zwölf Monate zu überblicken, Ideen niederzuschreiben, Projekte bis ins kleinste Detail durchzuplanen, Terminkalender auszufüllen, mit Überschwang Neues in Angriff zu nehmen. Akten werden umsortiert, neue Mappen beschriftet, Buchhaltung und Kundenverwaltung umorganisiert, Ordnerstrukturen auf der Computer-Festplatte gestrafft, Schreibwaren bestellt. Im Loft herrscht Aufbruchsstimmung.
Diese energiegeladenen Tage lassen durch das abergläubisch gepflegte Versprechen besserer Zeiten ein wenig vergessen, wie lange der letzte Urlaub zwischen Lavendel und blauen Wellen doch schon zurückliegt.

07/25/13

Gewittertag

Für den Schreibenden ist ein Gewitttertag in erster Linie ein Urlaubstag: Der Computer bleibt zu seinem eigenen Schutz ausgeschaltet, eMails müssen geduldig im elektronischen Briefkasten warten. Die Arbeit findet auf Papier statt, das sinnliche Kratzen von Kugelschreiber, Bleistift und Füller ersetzt das nervös fordernde Klicken der Tastatur – das Leben tut es der wärmemüden Luft gleich und atmet durch. Es ist die Gelegenheit, vernachlässigte private Korrespondenz zu erledigen, für die Blogs einen Veröffentlichungsplan aufzustellen, eine Liste der unumgänglichen Weihnachtsgeschenke zusammenzustellen – oder auch Artikel auf Vorrat zu verfassen, damit die Blogs in arbeitsintensiveren Zeiten nicht ganz verwaist bleiben. Alle diese Kleinigkeiten, die Ordnung in Alltag und Gedanken bringen, schaffen den Einklang zwischen der reinigenden Pause, die sich die Natur gönnt, und der Zufriedenheit, mit der der Abend die sanft plätschernde Betriebsamkeit belohnt. Aus der systematischen, beinahe leistungsethischen Zuverlässigkeit von Donnergrollen und lauten Regentropfen erwachsen die Frische aufgeräumter Gedanken und das angenehme Gefühl, nach müheloser Pflichterfüllung unbelastet, gestärkt und positiv gestimmt in den nächsten Tag gehen zu dürfen.

01/15/10

Grün auf schwarz

Als ich sie zum ersten Mal bemerkte, war es bereits am späten Abend, und die Terrasse, die den Töpfchengarten beherbergt, war in Dunkel getaucht. So hielt ich die zwei kleinen grünen Punkte eher für eine Lichtreflexion auf der schwarzen Erde, die im einsetzenden Frost feucht leuchtete. Dann vergaß ich, bei Tageslicht nachzusehen. Doch sind sie wirklich da, wie ich ein paar Tage später feststellte. Die ersten Spitzen der Schneeglöckchen strecken sich aus ihren Töpfen und begrüßen das Neue Jahr. Zu den ersten Trieben, die ich an jenem Abend entdeckte, haben sich mittlerweile weitere gesellt. Hat das Warten auf den Frühling, das die Schneemassen der vergangenen Woche beinahe müßig erscheinen ließ, doch bald ein Ende?

12/22/09

Schneetreiben

Das TextLoft versinkt im Schnee.

Zum ersten Mal seit Jahren hat es drei Tage lang fast ununterbrochen geschneit. Eine so dichte weiße Decke hatte Münster lange nicht mehr gesehen. Klein, aber beharrlich und fleißig haben sich die Flocken bis in jede noch so kleine Ecke gewagt, bis ihnen nichts mehr widerstand. Auf den pinkfarbenen Alpenveilchen, die auf der Terrasse seit September reich und unaufhörlich blühten, den antiken Regalen des Töpfchengartens und dem Stroh, das die in der milden Novembersonne zu früh gekeimten Tulpen schützt, bilden sie nun ein malerisches Bild. Und doch vermag es die Schönheit des Augenblicks nicht ganz, die Kälte vergessen zu lassen. Stunde um Stunde wird die Welt ebener und ruhiger, verschlossener, verlorener.

Bei molliger Wärme am Schreibtisch ließe sich der ungewöhnlich gewordene Anblick sicher genießen.
Doch das Loft ist zugig.
Sehr zugig.
Der Versuch, dem eisigen Wind, der durch Fensterrahmen und undichtes Mauerwerk unerbittlich und stetig eindringt, mit Zeitungspapier und ähnlichen Vorrichtungen beizukommen, gelingt fast. Wäre da nicht die wütende Luft. Kaum ist eine undichte Stelle erfolgreich verschlossen, gibt sich die Luft gereizt und rächt sich, indem sie andere, immer neue Ritzen nutzt, um das Loft mit noch mehr Kraft zu belagern, bis es aufgibt und die Eroberung zulässt. So bleibt nur die Flucht unter flauschige Decken, um die Arbeit am Schreibtisch einigermaßen erträglich zu machen – wenn auch abends trotz des warmen Stoffs der verkühlte Nacken und das Kreuz steif geworden sind und schmerzen und die eiskalten Finger die schnellen Bewegungen auf der Tastatur nicht mehr spüren.

Der rassig-röstige Duft aus der Caffettiera und das dunkle Aroma des Kakaos erfüllen tröstend und rettend den Raum, während draußen die Verwehungen unbarmherzig stärker werden und das Kerzenlicht bemüht so etwas wie Geborgenheit vortäuscht.
Geduldig und demütig wartet das TextLoft auf den Frühling.

06/28/09

Sommer im TextLoft

Mit den ersten wirklich heißen Tagen des Jahres, wenn das Thermometer dauerhaft über 24 Grad anzeigt, beginnt im TextLoft die dunkle Jahreszeit.

Tagsüber bleiben Fenster und Jalousien zum Schutz von Computer, Drucker und anderen Bürogeräten, aber auch zur Erhaltung von Konzentration und Arbeitsenergie geschlossen, der nötige Sauerstoff findet erst in den Abendstunden und bis in die Nacht hinein Einlass. Der Kaffeebecher muss weichen, an seinem Platz steht ein Glas, das immer wieder mit reichlich Eiswürfeln und Wasser nachgefüllt wird und an dessen Wänden immer dickere Perlen fleißig heruntertriefen, bis sie schließlich das zum improvisierten Bierdeckel zusammengefaltete Küchenpapier vollends durchweicht haben.

Mit dem frühen Abend, wenn der Geruch von gegrilltem Fleisch aus den Nachbargärten sich appetitanregend verbreitet, wird die Arbeit nach draußen in den luftigen Schatten verlegt. Die frische Luft, der Gesang der Amseln, die über die Weiten der Stadt hinweg den regen meteorologischen Austausch pflegen, das zufriedene Fiepen der Meisen, der Tanz der offenbar paarungswilligen Rotkehlchen, der Duft der Blumen, die sich in der einsetzenden Kühle von dem Tag erholen und dankend die aufkommende Feuchtigkeit aufsaugen, der Glanz der untergehenden Sonne auf entferntem Gebüsch werden nach den dunklen Stunden des Nachmittags euphorisch genossen, während die Hummeln ihre letzten Runden drehen und die Tauben nach und nach verstummen.

Bald leuchtet in der Nacht nur noch der Bildschirm, sehr zur Freude blutdurstiger Mücken. Kaum hat sich der Tag verabschiedet, zieht die Fledermausfamilie ihre Kreise und teilt sich die Stille mit dem leisen Klicken der Tastatur. Plötzlich, da alle Farben in die Grautöne verschwunden sind, scheinen die Rosen von innen zu leuchten. Geborgenheit erwächst aus den letzten Geräuschen, die der kühlende Wind den Zweigen abtrotzt. Eine kleine Maus wagt sich zu nah, erschrickt über die eigene Courage und flüchtet panisch unter den Efeu. Ihr aufgeregtes Rascheln zieht mehr Aufmerksamkeit auf sie, als nötig gewesen wäre.

Das Arbeiten in der dunklen, klaren Luft, in der nur noch vereinzelt abfallende Blätter zu hören sind, gehört zu den schönsten Seiten des Sommers im TextLoft und lässt Sorgen oder Ärger schnell vergessen. Der Sommer ist die Zeit der belohnenden Augenblicke.

11/24/08

November

Es ist seltsam – wenn die Kraniche kreischend über unsere Köpfe gen Süden ziehen, ist es, so lange ich zurückdenken kann, immer Samstag. Ein merkwürdiger Zufall. Fast zwei Wochen ist es nun her. Ihre Schreie lockten mich vom Schreibtisch, einige Minuten stand ich auf dem Balkon und sah ihnen nach. Erst als der allerletzte verschwunden war, und ich mich anschickte, wieder an den Schreibtisch zu gehen, merkte ich, dass ich lächelte.
Jedes Jahr aufs Neue berührt mich das lautstarke Spektakel zutiefst. Es ist ein magischer Moment, immer wieder. Ich kann mich daran nicht satt sehen, nicht satt hören. Sie sind wunderschön. So schön, dass ich zuweilen vergesse, ihre Warnung ernst zu nehmen. Für kurze Zeit steht die Welt still. Für kurze Zeit ist alles so, wie es sein sollte.
Als ich sie letztes Jahr beobachtete, war ich auf der Straße, mitten in unserem Viertel. Geschäftig wurden um mich herum Kofferräume mit Einkäufen gefüllt, Tüten verstaut, Kinder auf Sitze geschnallt, geblinkt, gefahren, geparkt. Niemand schien sie zu hören, niemand hielt inne, niemand schaute zu ihnen hoch, niemand hatte Zeit für sie übrig. Und die Kraniche taten mir leid. Tagelang hallten ihre Schreie in meinem Ohr, und ich war wütend, traurig, angeekelt, dass sie niemand beachtet hatte. Als sie uns diesmal verließen, war ich froh, ganz alleine auf meinem Balkon zu sein und nicht mit ansehen zu müssen, wie sie ignoriert wurden.
Drei Tage später taten es ihnen die Gänse nach. Es waren nur sehr wenige, so schien mir, die ihre Eins in den Himmel malten.

Die Rosen blühten weiter in den benachbarten Gärten, noch grünes Laub hing an den Bäumen – ein trauriger Anblick, wenn die Natur den Herbst vergisst. Das beharrliche Fernbleiben des ersten Frostes, der stete Regen, die anachronistischen Knospen der Kapuzinerkresse waren viel deprimierender als die schwarzen Gestalten kahler Äste an einem weißlich-stürmischen Tag. Aus Nostalgie wird existenzielle Angst, über die die Bequemlichkeit nicht hinwegzutrösten vermag. Mit erschreckender Deutlichkeit machen harmlose Gewächse den Countdown regelrecht spürbar. Wie die Kraniche wird er überhört – Bekannte erzählten selbstzufrieden, wie angenehm es draußen sei. Unter dem Vorwand eines dringenden Termins brach ich das Gespräch entschuldigend ab und vermied es so, allzu spontane Bemerkungen über ihren IQ oder ihre Hirnleistung fallen zu lassen, von denen ich weiß, dass ich sie nicht hätte zurückhalten können.

Ich war so damit beschäftigt, die Natur zu bedauern, dass ich die Botschaft der Kraniche vergessen hatte. Nun stand der erste Wintereinbruch vor der Tür, und in das nervöse Warten auf Sturm und Schnee mischte sich elektrisierte Erleichterung. Ein Stückchen Normalität an einem trüben Novembertag. Ein Stückchen Versöhnung, ein Stückchen Illusion.

Erste zaghafte Flocken am frühen Mittag versuchten, den Meteorologen recht zu geben. Dann verloren sie sich wieder in den Regen. Falscher Alarm, der eine gespannte Atmosphäre hinterließ. Das Haus schien stiller als sonst. Immer wieder schweifte der Blick zum Fenster ab. Gegen 17 Uhr piepsten die Amseln aufgeregt in die Dunkelheit, doch der angekündigte Sturm blieb aus. Über Nacht fielen nur wenige Flocken. Nur ganz wenige. Ich ging wieder an meine Arbeit.

Die Anspannung aber blieb. Das Gefühl hatte nicht getäuscht. Am späten Abend des übernächsten Tages setzten starke Schneefälle ein, die Stadt wachte weiß, strahlend und aufgeregt auf. Und ich dachte dankbar an die Kraniche.