Es war ein trüber kalter Herbsttag. Draußen nieselte es seit Stunden auf deprimierende Weise. Nicht die kleinste Aufhellung war in Sicht, das Wetter hielt sich unverschämt zuverlässig an die Vorhersage und mit völlig übertriebenem Pflichtbewusstsein an den Kalender. Ich hatte das Licht bereits beim Frühstück einschalten müssen, das ich entgegen seiner Bezeichnung für gewöhnlich jedoch nicht gerade am Morgen einnehme, und seitdem keine Gelegenheit mehr gehabt, die Lampe – und sei es nur für kurze Zeit – wieder auszuschalten, was mir besonders widerstrebte.
Es war die Art von Tagen, an denen die meisten krampfhaft versuchen, es sich zu Hause bei Kerzen, Tee, gedämpfter Musik und wolligen Decken gemütlich zu machen, um ja nicht zugeben zu müssen, wie unangenehm die Jahreszeit in Wirklichkeit ist; die Art von Tagen, an denen meine Laune erheblich zu wünschen übrig lässt und ich unruhig in meinem Arbeitszimmer tigere, als würde es diese sinnlose Bewegung vermögen, die sadistischen Wolken umzustimmen. Die heuchlerische Suche nach Geborgenheit und der Rückzug in den schützenden Kokon aus sanftem Licht und warmen Düften ist mir im Allgemeinen kein Trost, auch wenn ich diese Fähigkeit anderer bewundere, aus der Selbstlüge Stärke zu ziehen. Dauert eine solche Wetterfront mehr als drei Tage an, gelingt es mir nicht mehr, die Anspannung zu verdrängen. Schreiben ist nicht mehr möglich, überhaupt wirkt jede Art von Aktivität auf einmal unzumutbar, und wenn nicht einmal die mit aller Kraft bemühte Vorstellung im Frühling blühender Tulpen und sprießender Gänseblümchen das Grau und die Feuchtigkeit zu vertreiben vermag, wenn nervöse Hilflosigkeit und vergrabene Urängste die Oberhand gewinnen, lasse ich mich meistens vor dem Fernseher nieder und verschlinge so lange Comedyserien, bis ich nicht mehr genau weiß, wie die Welt da draußen aussieht, und das Gefühl bekomme, den Tag irgendwie zu überstehen. Ich muss vergessen.
Nach einigen Tagen jedoch stachelt mich das schlechte Gewissen des Leistungsethikers wieder an, und ich muss einsehen, dass das Flüchten nicht ewig währen kann und es wieder an der Zeit ist, zumindest in kleinen Schritten etwas Sinnvolles zu tun. Ablenkung um jeden Preis – nun aber wohl dosiert und vernunftorientiert. Es ist der ideale Moment, um vernachlässigte Korrespondenz nachzuholen, die in Zeiten intensiven Arbeitens zu oft brachliegt. Und die Bemühung, sich auf die Adressaten einzulassen und einigermaßen Spannendes zu berichten, hat die positive Wirkung eines erzwungenen Lächelns: Es geht einem weiterhin schlecht, doch ganz so elendig fühlt man sich nicht mehr.
Genau an einem solchen Tag beschloss ich, ein Vorhaben, dass mir schon seit zwei oder drei Wochen vorschwebte, in die Tat umzusetzen, und mich nach einer für meine Tätigkeit passenden Versicherung umzusehen.
Wer für andere schreibt, sollte sich angemessen versichern, dachte ich so vor mich hin. Schließlich ist ein Schreibender auch nur ein Mensch, und bei aller Sorgfalt und trotz zahlreicher Korrekturdurchgänge kann ihm oder seinem Lektor dennoch ein Tippfehler entgehen.
Und so tat ich das, was auf der Hand lag, schickte zunächst mit der Bitte um Auskunft meinen üblichen Versicherungsvertretern eine ausführliche eMail mit allen Daten zu meiner Arbeit, Kundenportfolio, Auftragsbeschreibungen, und begab mich zudem dahin, wo der Suchende heutzutage Hilfe sucht: ins Internet.
Ich hatte ja Zeit, war gerade nicht in der Stimmung, etwas anderes zu tun, und stöberte also selbstvergessen durch die Angebote der Versicherungen. Ich bekam die Möglichkeit, online Tarife für Kraftfahrzeugversicherungen zu ermitteln – zu schade, dass ich kein Auto habe -, ein witziges Progrämmchen mit süßen Animationen rechnete mir vor, was Inlays und Verkronungen kosten können, ich wurde eindringlichst auf die finanziellen Risiken einer Berufsunfähigkeit aufmerksam gemacht, ich fand Haftpflichtversicherungen für Chirurgen, Anwälte, Bauingenieure und für viele anderen Berufe, von denen ich nur sehr vage ahnen konnte, was sich dahinter verbarg. Aber Menschen, die sich mit Texten befassen? Das schien es auf dem Planeten Erde am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht zu geben.
Mit Hartnäckigkeit wühlte ich mich durch die abgelegensten Winkel des WeltWeiten Netzes und entdeckte schließlich in einer besonders stark verstaubten Ecke, in die offenbar seit längerer Zeit kein Mensch mehr vorgestoßen war, drei Gesellschaften, die Angebote für Journalisten und Autoren versprachen. Von Verletzung der Persönlichkeitsrechte durch Zeitungsartikel oder Fotos war die Rede, von horrenden fälligen Zahlungen bei Copyright-Verletzungen, Verleumdungsklagen, Unterlassungsverfahren. Das klang alles natürlich furchtbar wichtig, nicht minder unentbehrlich, hatte nur nichts mit mir zu tun. Eigentlich wollte ich doch nur ein paar Tippfehler oder eine kaputte Daten-CD absichern. War es denn ein so ungewöhnlicher Wunsch? Es schien doch unwahrscheinlich, dass ich die erste sein würde, die an solche Dinge dachte.
Die Recherche war so faszinierend, dass ich tatsächlich bald Tag, Wetter und Uhrzeit vergessen hatte und nicht einmal merkte, dass die Temperatur in meinem Arbeitszimmer merklich abgekühlt war und ich fror. Als es mir endlich auffiel und ich aufstand, um die Heizung einzuschalten, fühlten sich meine Füße wie Eiszapfen an – eine schlechte Angewohnheit, die ich ihnen von November bis April ohnehin schlecht austreiben kann. Ich setzte mich gerade wieder hin, als meine Mailbox sich meldete: Einer meiner Stammversicherer hatte geschrieben.
Sehr viel konnte ich seiner Antwort nicht entnehmen. Er würde sich bei seiner Zentrale kundig machen und Bescheid sagen, erklärte er kurz und knapp. Dass ein regionaler Vertreter nicht alle Versicherungsfälle und -tarife im Kopf haben kann, konnte ich gut verstehen. Ich wartete gespannt auf weitere Informationen.
Zwei Tage später rief er an und erklärte mir, er hätte Rücksprache gehalten und könne mir nichts anbieten: So einen Beruf könne man gar nicht versichern. Es gäbe wohl Versicherungen für Journalisten, falls ich mich für meine Beiträge in meinem Blog versichern müsse. Und wenn ich mehr in Werbung machen würde, dann gäbe es ja schon ‚was, aber so … Die drei Punkte in seiner Stimme gaben das ganze Ausmaß seiner Ratlosigkeit preis und löste meine geradezu aus. Nun ja, was ich da mache, sei eben keine Werbung, meinte der junge Mann, der rein rechnerisch ohne Weiteres mein Sohn sein könnte, ohne weitere Erklärungen. Er verstünde ohnehin nicht so richtig, was man damit wolle. Ich gab es auf. Vielleicht lag es daran, dass es draußen gerade so trüb war und ich dementsprechend auf eine pädagogische Einführung in die Textarbeit wenig Lust hatte und die nötige Energie nicht aufzubringen vermochte. Ein Stück resignierter Einsicht war aber auch dabei. Wer mein Portfolio gelesen hatte, wusste, was schreibe, und wer es nicht begriffen hatte, hatte es eben nicht besser verdient, als dass ich mich woanders versicherte. Sollten eigentlich ausgerechnet Versicherer nicht mit allem vertraut sein, was es unter der Sonne, pardon: dem Regen, gibt? Es wurde mir zu dumm, ich gab ihm zum Schein recht und legte auf.
In der Zwischenzeit hatte ich den anderen Gesellschaften, die behaupteten, Freiberuflern etwa Haftpflicht- und andere Versicherungen anzubieten, ebenfalls eine eMail geschickt.
Mit uneingeschränkt lobenswerter und für mich überraschender Geschwindigkeit kamen auch Rückmeldungen.
Die erste erreichte mich übers Telefon.
„Wat wolln Se denn an Texten verchsischern?“ fragte ein älterer Herr mit rheinischen Akzent etwas spöttisch. „Wat soll dat für ne Beruf überchaupt sein? Schreim is doch kein Beruf! Wenn Se für andere schreim, dann ist dat ne Jefällischkeit, und Jefällischkeitn kann man nisch verchsischern. Dat ist so, als würden Se nem Bekannten helfen, seine Wohnung zu chenoviern. Wat wolln Se denn da verchsischern?“ Als ich ihm erklärte, dass man auch mitunter Geld dafür bekommt, wenn man für andere schreibt, konnte ich regelrecht hören, wie ungläubig er gerade am anderen Ende der Leitung dreinblickte: „So wat Verrücktes hab isch noch nie jehörcht! Alllso, isch kann Ihnen nisch hälllfn.“ Irgendwie war es mir klar gewesen.
Von einer anderen Seite wurde ich mit Rückfragen über den „Inhalt“ meines „Gewerbes“ gefragt, und als ich mein Portfolio zusandte, kam mailwendend die Frage, was ich nun genau machen würde.
Wie die Geschichte ausging? Gar nicht. Ich warte noch auf zwei Antworten. Ich werde meine Leser auf dem Laufenden halten. Ganz sicher.