Zu normal zum Schreiben?

In ihrem gleichermaßen informativen wie unterhaltsamen Artikel „The Author’s Dilemma: To Blog or Not to Blog“ beschreibt Claire E. White im Internet Writing Journal die Verwunderung einiger Autoren über das Interesse ihrer Leser an ihren Blogeinträgen im Allgemeinen und ihrem Privatleben im Besonderen: „Some authors seem surprised that readers would like to hear about their daily battles with the cable company, their root canal or their impending hot date„.

Wer schreibt und dies zugibt, wird in der Tat sehr schnell durch die eigene Umgebung mit der Frage konfrontiert, ob Schreibende etwa „anders“ leben. Mit dem Begriff „anders“ werden alle Bereiche des Alltags etikettiert: Steckt in dem Klischee der schreibenden Boheme vielleicht ein Fünkchen Wahrheit? Wie soll man sich die Situation des Zuhausearbeitens denn überhaupt vorstellen? Wie ist es, vor einem leeren Blatt zu sitzen, wenn einem nichts einfällt – gibt es das wirklich? Wo kommen die Ideen her?
Filme und Fernsehen bedienen ja im Überfluss ein fantasieanregendes Image: ungeduscht und rauchend sitzen Schriftsteller in einem vor Zetteln und zerlesenen Büchern überquellenden Zimmer im Schlafanzug vor dem Bildschirm, liegen trunken, hadernd und kämpfend, an der Whisky-Flasche festgekrallt in schummerigem Licht auf abgewälzten Couchs, verbringen Stunden kritzelnd in Cafes, gehen ins Bett, wenn die Sonne aufgeht, vergessen vor lauter Kreativität, dass Post und Rechnungen den eigenen Briefkasten verstopfen und sich Müll in der Küche stapelt, essen im Stehen direkt aus der Konservendose, bestenfalls aus dem Topf. Chaotisch geht es zu, verhärmt und vereinsamt, ökonomisch und gesundheitlich desaströs, exaltiert künstlerisch bis weltfremd verklemmt.

Wie sehr sich solche Bilder in der allgemeinen Vorstellung festsetzen, wurde mir zum ersten Mal bewusst, als eine flüchtige Bekannte, mit der ich geschäftlich und daher lediglich telefonisch und per eMail zu tun hatte, mich zum ersten Mal zu Hause aufsuchte.
Sie sollte bei mir einen Briefumschlag abholen, wobei wir keine feste Uhrzeit vereinbart hatten. Von dem „späten Nachmittag“ war die Rede gewesen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie wirklich kommen würde, denn sie klang oft sehr beschäftigt. Gegen 17 Uhr klingelte es tatsächlich. Sie stürmte etwas gehetzt herein, erzählte, sie parke in zweiter Reihe vor dem Haus (in unserem Viertel ein Dauerzustand) und sei zu einem weiteren Termin unterwegs, und schlug bereits im Flur den Kaffee aus, den ich mich anzubieten anschickte. Sie wolle nur rein und raus, meinte sie hektisch-dynamisch und zeitgemäß überlastet, während sie versuchte, eine hartnäckig immer wieder in ihre Stirn zurückfallende Strähne wieder in Ordnung zu bringen. Um ihrem Zeitdruck gerecht zu werden, bat ich sie also in den Raum, in dem ich mich gerade aufhielt, und zufällig war das mein Arbeitszimmer. Als ich ihr den Briefumschlag überreichen wollte, der der eigentliche Anlass ihres Besuches war, merkte ich erst, dass etwas nicht stimmte. Ihr entsetzter Blick wanderte umher und ihr halb offener Mund zeugte unmissdeutig von Verblüffung. Sie schien, krampfhaft nach etwas zu suchen, und ich selbst begann, mich verunsichert umzuschauen, um zu ergründen, was sie so aus der Fassung gebracht hatte, als er aus ihr herausbrach: „DAS ist Ihr Arbeitszimmer??“
Die Frage kam aus dem Grunde überraschend, dass mir nicht ganz klar war, worin die Zweifel darüber bestehen könnten. An einer Wand ist ein dreiteiliger französischer Bücherschrank aufgestellt, zwei weitere Bücherregale und eine Büchervitrine stehen an zwei der anderen Wände, ein großer Sessel kuschelt sich an das riesige Balkonfenster, ein Semainier mit Schreibwaren und Notizbüchern thront auffällig in einer Ecke, und der größte Platz im Raum wird von einem ganz gewöhnlichen, nicht besonders ansehnlichen Schreibtisch eingenommen, auf dem Computer, Telefon und Terminkalender zu sehen sind. Hier gibt es weder Fernseher noch Stereoanlage, keine Couch, keine Anrichte mit Geschirr, nicht einmal einen noch so kleinen Tisch für einen Kuchenteller, und bis dahin hatte ich nicht vermutet, dass die Nutzung des Raums auf irgendeine Weise missverständlich sein könnte.
An meinem unsicheren „Ja“ merkte sie wohl, dass ich ihre Frage nicht ganz nachvollziehen konnte:
„Ich hätte gedacht, bei einem Menschen des Textes wie Ihnen liegen überall Bücherstapel herum und man muss sich zwischen Bergen von Papier durchkämpfen, und der Schreibtisch ist voll und man findet nichts mehr drauf!! Das habe ich mir aber ganz anders vorgestellt!!!“
Die Art, wie sie das Wort „gaaanz“ betonte und in die Länge zog, ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig, ich konnte an ihrer Stimme hören, wie sich die Ausrufezeichen blitzschnell aneinanderreihten. Sie war nicht nur überrascht, sie war schockiert. Ihre Welt war zusammengebrochen. Ohne dass ich so recht hätte sagen können, warum, war mir die Situation auf einmal sehr peinlich: Ich fühlte mich ertappt, ohne zu wissen, wobei, und es beschlich mich das unbestimmte, unangenehme und übermächtige Gefühl, ich müsste mich entschuldigen, was ich auch ernsthaft verlegen tat. Aber auch das konnte den ersten Eindruck nicht wiedergutmachen, den sie von mir bekommen hatte: Sie war zutiefst enttäuscht, und ich sah ihr an, dass sie sich fragte, ob ich nun überhaupt wirklich schreiben könne – war doch bei mir alles so entsetzlich unspektakulär, langweilig normal, ja geradezu bürgerlich aufgeräumt.

Solche ernüchterte Reaktionen habe ich seitdem oft erlebt – und jedes Mal ist es mir aufs Neue aufrichtig unangenehm, den Klischees nicht zu entsprechen, die das kollektive Bewusstsein mit dem verbindet, was ich tue; jedes Mal fühle ich mich aufs Neue ertappt und stammele hilflos eine wirkungslose Ausrede.
Zugegeben, das Leben eines Beamten führe ich nicht wirklich: Ich gehe dann ins Bett, wenn die meisten Bäcker aufstehen, vor Mittag ist mit mir daher nicht zu rechnen; und wenn ich an einem Projekt arbeite, vergesse ich schon mal, zu essen, oder welcher Tag gerade ist. Aber da hört das Bohemehafte auch schon fast auf.

Die bereitwillige Aufnahme von Autorenblogs, wie sie Claire E. White darstellt, macht den grundsätzlichen Spagat deutlich, der durch die der Fiktion entsprungenen Vorstellungen geschlagen wird: Der Neugier für das Ungewöhnliche, das Spannende, das dem Alltag des Schreibenden primär unterstellt wird, steht das Bedürfnis nach voyeuristischer Normalität und Entzauberung ausgleichend gegenüber. So rät Claire E. White:
Of course, some authors are better at blogging than their peers. One author can make a trip to the grocery store sound interesting, while another might have flown to the International Space Station as a space tourist and manage to make a dull story of it. It’s not what you blog about, it’s how you blog. Write from the heart, write about what interests you and chances are it will interest your readers as well.
[…]
Many authors complain that they don’t have anything to say, that their lives aren’t that interesting on a day to day basis. But that’s entirely the point: it’s not your life that has to be interesting. But how you write about it must be interesting.“

Weil Schreiben eben etwas ganz Normales ist.