03/15/21

Kolumne – ein im deutschen Sprachraum in Verruf geratenes Genre

Kolumnen sind eine sehr alte Textform und im Grunde in vielfacher Hinsicht die Vorgänger mancher heutiger Blogbeiträge. Ihre Geschichte allerdings hat in den letzten Jahren eine unschöne Wendung genommen, und es ist zu befürchten, dass sie dem Zeitgeist anheimfallen – widersprüchlicherweise, leben wir doch in einer Welt, in der jeder über die elektronischen gesellschaftlichen Netzwerke seine Meinung kundtun kann und von dieser Möglichkeit reichlicher bis übermäßiger Gebrauch gemacht wird.

In früheren Zeiten galten Kolumnen nach dem investigativen Journalismus als prestigereiche Sparte des Zeitungswesens. Kolumnist zu werden bedeutete eine Beförderung und ein erhebliches Ansehen.
In der Tat erfordert die Kolumne besondere stilistische Fähigkeiten, die weit über diejenigen hinausgehen, die für die gewöhnliche Berichterstattung notwendig sind. Die wöchentliche Kolumne war in der säkularen Welt der Zeitung das, war der Messe die Predigt war.

Mit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts jedoch begann das Blatt, sich zu wenden. Immer häufiger wurden Kolumnen – in der breiten öffentlichen Vorstellung, aber durch das Aufkommen der Online-Medien und des damit verbundenen Dilettantismus’ auch zum Teil in der journalistischen Szene – mit anderen Formen verwechselt. Die Grenzen zwischen Kolumne, Glosse, Kommentar und Leitartikel wurden zunehmend unscharf. Noch hätten sich die unterschiedlichen Ansätze gegenseitig bereichern können, aber es sollte anders kommen.

Mit der Jahrtausendwende entglitt die Kolumne schließlich dem Journalismus und verlor eines ihrer wichtigsten Merkmale: die Konstante des vertrauten und professionellen Autors. Gastartikeleitelkeit einerseits und die immer dringendere, wirtschaftlich bedingte Unumgänglichkeit eines Gebots der Attraktivität in einer sich selbst aufgebenden Branche andererseits führten dazu, dass der Kolumnist seine Funktion und seine journalistischen Eigenschaften einbüßte. Prominente (oder welche, die es gerne wären) wechselten sich nunmehr ab und änderten die Spielregeln nach Gutdünken und Imageimperativen. Eine verheerende Mischung aus Profilierungssucht und Leserheischerei leitete den Weg zu einem sinkenden Niveau von Textqualität und Themen ein.

Heute ist das Wesen dessen, was eine Kolumne ist und sein sollte, weitgehend vergessen und wird von Lesern überhaupt nicht mehr verstanden, wie die Kommentarfunktion bekannter deutscher Online-Magazine veranschaulicht.
Kolumnen werden besonders gern angegriffen und als grundsätzlich überflüssig betrachtet. Sie sind das bevorzugte Ziel von Rechthabereien und Wortklaubereien und fallen damit, wie viele andere Dinge im Bereich Text, Kunst und Kultur, dem allgemeinen Schrei nach nackten und somit undifferenzierten Daten und vermeintlich objektiven Fakten zum Opfer – als freue sich die Menschheit darauf, endlich von gefühlsneutralen Robotern abgelöst und ersetzt zu werden, als bettelte sie regelrecht darum. Meistens wird nicht die geäußerte Meinung, also der Inhalt kritisiert, sondern das Genre an sich, weil seine Daseinsberechtigung, sein Zweck, seine Absicht und sein Nutzen schlicht nicht mehr bekannt und nicht mehr verstanden werden, und mit einer Reihe falscher Vorstellungen einhergehen.

Dass ein Genre komplett und zudem in relativ kurzer Zeit obsolet wird, ist in der Geschichte des Textes ungewöhnlich und bedauerlich. Dass es ausgerechnet in Deutschland der Fall ist, verwundert allerdings zugegebenermaßen leider wenig. Text- und Formerziehung werden unter dem Vorwand teils historischer Altlasten, die es abzutragen gebe, teils einer erklärten resoluten Zukunftsorientiertheit, tatsächlich wohl eher aufgrund kultur- und mentalitätsgewachsener Denkmuster und Werte grundsätzlich, wissentlich und gezielt vernachlässigt bzw. unterbunden.

So bleibt nur zu hoffen, dass diese Krankheit des Textvergessens nicht allzu sehr um sich greift, sich innerhalb unserer Sprachgrenzen eindämmen lässt und nicht auch noch sie zu einer vernichtenden Pandemie wird.

03/4/21

Amanda Gorman und Marieke Lucas Rijneveld – die Macht der Einfalt und des ängstlichen Mittelmaßes

Die Versuchung ist groß, sich wider besseres Wissen an dieser Diskussion zu beteiligen. Natürlich ist sie müßig. Natürlich ist sie kein Dialog, sondern ein paralleler Monolog von zwei Fronten, die nicht miteinander kommunizieren wollen und können. Natürlich ändert eine weitere überflüssige Meinung nichts daran. Anfangs fiel es mir leicht, mich zurückzuhalten. Weil ich weiß, dass es Zeitverschwendung ist, sich zu äußern. Je mehr Zeit vergeht, je mehr Unsinn in die Medien hineinfindet, desto unmöglicher wird es mir. Die Vernunft sagt, dass es keinen Sinn hat, sogar kontraproduktiv ist, ja masochistisch. Aber die Liebe zum Text ist stärker, lässt ein Schweigen nicht zu.

 

Zu viele Missstände offenbart diese Debatte: Das sektiererische rechthaberische Denken der pseudointellektuellen Gutmenschen „Geschmacksrichtung 2021“ habe ich mittlerweile gelernt, vornehm dezidiert zu ignorieren. Durch stillen Rückzug und freiwillige Isolierung, durch selbstgewählte Einsiedlerei, durch den Verzicht auf das Lesen von Nachrichten aus dem sogenannten „Literatur-Betrieb“ – welch ein viel sagendes Wort! – ist es durchaus noch möglich, sich davor zu schützen. Das katastrophale Unverständnis dessen, was Schreiben und Text sind, ist allerdings ungebrochen schmerzlich, und gerade dieser Schmerz bahnt sich zuweilen durch einen unnützen, doch befreienden Schrei seinen Weg hinaus.

Was ist passiert?
In einem ersten Schritt wird der jungen holländischen Dichterin mangelnde Qualifikation vorgeworfen, weil sie sich unsicher in Bezug auf ihre Englisch-Kenntnisse geäußert habe.
Schreibende, Textkundige und Textliebhaber wissen, dass sprachlicher Nuancenreichtum nur in Ausnahmefällen in einer Fremdsprache erreicht wird. Was Marieke Lucas Rijneveld mit Einsicht einschränkend über die Möglichkeit, selbst in englischer Sprache zu dichten, gesagt hat, wird nun als „Beweis“ mangelnder Qualifikation angeführt. Dass es sich vielleicht sogar um falsche Bescheidenheit, um Tiefstapelei gehandelt haben könnte, um die Demut einer jungen Virtuosin vor dem Instrument Sprache in all seinen Facetten und Schwierigkeiten – daran scheint niemand gedacht zu haben. Angesichts der allenthalben herrschenden Selbstüberschätzung mag es wenig überraschend sein, jedoch ist es in keiner Weise entschuldbar(er). Texte zu Ende in ihrer Gesamtheit kontextuell richtig interpretieren zu lernen, wäre vor einer solchen Kritik wünschenswert gewesen.

Der quasi zweite Stein wird im Anschluss von denjenigen geworfen, die zu unterstreichen nicht müde werden, dass sie nur in ihre Muttersprache übersetzen, weil sie in der Fremdsprache nicht gut genug dafür sein könnten. Pikant.
Gerade diese Übersetzerzunft ergießt sich in Hohn und Genugtuung.
Sollte nicht ausgerechnet sie es besser wissen? Nein, gerade sie versteht es nicht und nutzt marketingwirksam die Gunst der Stunde, um eine vermeintliche Professionalität in den Vordergrund zu stellen, die längst zur Hybris geworden ist – stellt sie doch die Zielgruppe ohne jede Rücksicht und ohne jeden Respekt über den Ausgangstext. Dass eben eine Branche, die ihre Aufgabe allen Beteuerungen, Worthülsen und Selbstverherrlichungen zum Trotz neuerdings nicht mehr in der Vermittlung von Unterschieden und Besonderheiten anderer Kulturen, Denk- und Schreibweisen, sondern in der Anpassung an die Vorstellungen, Erwartungen und Wünsche einer Leserschaft sieht, und ganz nebenbei dadurch beweist, dass sie entweder vom Wesen eines Textes und des Schreibens nichts versteht, indem sie unumwunden und mit geradezu belustigend tragischem Stolz erklärt, die Zielgruppe konsequent über die Textabsicht zu stellen, oder aber dass das Wesen eines Textes und des Schreibens ihr schlicht egal sind und sie für die passende Honorarrechnung jede Ethik gern über Bord wirft, überrascht nicht.
Die ästhetischen Werte, die Amanda Gorman in Marieke Lucas Rijneveld gesehen hatte, den Gleichklang ihrer Tonalitäten, zählen für dieses seltsam von sich eingenommene Völkchen nicht mehr. Paul Celan, Gottsched, Rilke … allesamt wären es nach der Meinung der selbsternannten „Sprachmittler“ nicht würdig gewesen, die mitunter genialen und bis heute nie wieder erreichten Übersetzungen zu liefern, die sie der Welt geschenkt haben – schließlich waren sie „nur“ Schriftsteller, „nur“ Dichter, nicht hauptberuflich Übersetzer!

 

Was wären nur diese Kritiker geworden, bevor die Fotografie erfunden wurde? Was hätten sie nur in Jahrhunderten zu tun gehabt, in denen kein fesches Bild des Autors auf der Rückseite des Bucheinbands prangte? Sollen nun alle Übersetzungen von Alexandre Dumas’ Bücher dringend neugeschrieben werden und die vorhandenen vorsichtshalber schleunigst aus allen Bibliotheken entfernt werden? Was tun bei Autoren, die sich als Pseudonym einen geschlechtsneutralen Vornamen aussuchen? Wäre es nicht besser, sie gar nicht mehr zu übersetzen?

Ich bekomme für meine Arbeit viele Komplimente und höre viele Adjektive, die alle sehr großzügig sind. Nicht einmal einen winzigen Bruchteil davon verdiene ich, und auch wenn sie aufrichtig sind, machen sie mich eher verlegen, als dass ich mich über sie freuen würde. Einen Satz aber habe ich mit größter Freude und, wie ich zugebe, mit einigem Stolz gehört, und er erfüllt mich heute noch mit Dankbarkeit, weil er für mich das schönste Kompliment ist, das man einem Autor überhaupt machen kann. Eine eher flüchtige Bekannte, allerdings vom Fach, mit der ich einige Zeit korrespondiert hatte, schrieb mir einmal: „Deine Texte sind so unglaublich. Wenn ich nicht wüsste, ob Du ein Mann oder eine Frau bist, würde ich es an Deinen Texten nicht erkennen. Ich könnte auch nicht sagen, ob Du jung oder alt bist.“
Was Frau Deul, der Aktivistin (eine wahnsinnig gut geschützte und streng überwachte Berufsbezeichnung, die eine hach! so herausragende und komplizierte Ausbildung erfordert) und Mode(!)-Journalistin, wohl dazu einfallen würde? Vermutlich dürfte mich nach ihren Maßstäben niemand übersetzen – eigentlich ist mir dieser Gedanke eine Erleichterung.

Wenn nur zwei Menschen mit ähnlicher Biographie einander wirklich, ernsthaft und echt verstehen können und nur sie die gleiche Sprache sprechen, sollte überhaupt noch übersetzt werden? Bedeutet das nicht viel eher, dass ihre Sprache ihnen so eigen ist, dass der Versuch gar nicht erst unternommen werden kann, sie zu vermitteln, sie außerhalb ihres engen Kreises erlebbar zu machen, weil der Rezipient immer einen nicht zu überbrückenden Mangel aufweisen wird und das „Über-Setzen“ von vornherein scheitern muss? Schlimmer noch: Sollte überhaupt noch veröffentlicht werden, es sei denn für die eigene Zwillingsschwester, den eigenen Zwillingsbruder?
Die Argumente sind bekannt: Übersetzungen seien zwar nur eine Krücke, aber eine Krücke sei besser, als gar nicht laufen zu können, und uns blieben ohne Übersetzungen viele Werke der Weltliteratur verborgen. So gelange zumindest ein Teil dessen, was gemeint sei, zu uns, wenn nicht die ganze Schönheit, die ein Buch ausmache. Dass ein Teil des Textes unwiederbringlich durch die Übertragung verloren geht, ist also normal, zulässig, unumgänglich, gar nicht so schlimm, und welcher das sein darf, entscheidet der Übersetzer – Anmaßung als Berufsbeschreibung.
Aber die Frage lässt sich vertiefen: Wie viele Werke weißer Literatur wurden und werden durch Weiße in afrikanische Sprachen übersetzt? Hätte man seinerzeit Seiji Ozawa verbieten sollen, westliche Musik zu dirigieren, weil er sie nicht verstehen könne? Hatte Jessie Norman das Recht, italienische Opern zu singen? Schließlich – so offenbar der grundlegende Gedanke des einfältigen Bildungsmobs, der den Shitstorm losgetreten hat – können Schwarze und Weiße nicht gleich oder annähernd ähnlich denken, haben nicht denselben Erfahrungshorizont und können einander daher zwangsläufig nicht verstehen, sie sind sich fremd und werden es unvermeidlich bleiben. Jeder solle also bei seinem Leisten bleiben, in seinem kleinen, begrenzten Kulturkreis, in seinem geistigen Lockdown. Für mich ist DAS Rassismus in Reinkultur, streng genommen Apartheid, und das Gegenteil dessen, was Übersetzung sein sollte.

Diese Debatte ist allerdings nicht nur ein Politikum, sondern auch Ausdruck der vollkommenen Textblindheit unserer Zeit im Allgemeinen und in der Übersetzungsbranche im Besonderen. Selbst Literatur und textnahe Berufe haben sich anstecken lassen: Es geht lediglich um die Information, um Daten, um Fakten, nicht um Stilistik, Form, Klang, Farbe und Schönheit. Texte werden auf ihren Inhalt und die Biographie ihres Autors reduziert. Textästhetik und werkimmanente Rezeption sind von der Vorstellung dessen, was Text ist, verschwunden.
Hier wurde eine Kleinigkeit übersehen: Gerade Dichtung ist mehr als Lebenslauf und Inhalt, mehr als Thema und Anliegen. Übersetzer und selbsternannte Werteschützer haben es offenbar vergessen: Echte Kunst ist universal, sie vermittelt dadurch, dass sie ist.
Die in den letzten Jahren immer stärker und lauter gewordenen voyeuristischen Forderungen des Publikums – im weitesten Sinn, zählen dazu nämlich Leser, Zuschauer, Konsumenten der Inhalte auf Sozialen Netzwerken – zeigen Wirkung. Die aus Gründen des Marketings unvermeidlich gewordene Entblößung von Autoren und Künstlern, die dazu gedrängt werden, sich privat als Person „zu zeigen“, führt zu verhängnisvollen Vermengungen von Biographien und Außenwahrnehmung.
Amanda Gorman ist eine tatsächlich auch politisch engagierte Künstlerin. Sie auf dieses Engagement, ihre Vergangenheit und ihre Hautfarbe reduzieren zu wollen, ist eine Frechheit und eine Beleidigung. Ihre Sprache wäre auch so machtvoll, wenn sie über andere Dinge schreiben würde. Dies zu verkennen, ist schlicht dumm und blind.

 

Marieke Lucas Rijneveld tut mir zutiefst leid. Ich kann mir unschwer vorstellen, wie es ihr geht, und es tut mir – auch aufgrund ihres Alters – an der Seele weh. Ich hoffe, dass sie über die Narben, die diese Erfahrung hinterlassen wird, hinwegkommt. Sie war auch aus Amanda Gormans Sicht die richtige Wahl, weil sie die richtige Klangfarbe eingebracht hätte, die richtige Linie, das richtige Handwerk, den richtigen Geist, die richtige „Wellenlänge“. Amanda Gorman hatte keine Bedenken hautfarblicher Natur. Weil sie eben keine Rassistin ist. Aber Respekt und Gleichbehandlung aller Menschen ohne Ansehen von Herkunft, Geschlecht und Farbe haben in unserer Welt der so selbstgerechten wie unterbeschäftigten Mediokrität nichts zu melden.

 

Ich würde mir wünschen, dass Marieke die Gelegenheit bekommt, in Zusammenarbeit mit der Autorin parallel zu der nun angestrebten Übersetzung ihre eigene vorzulegen. Ich könnte mir vorstellen, dass manche überrascht wären. Und ich würde lachen, wenn sich eines Tages herausstellt, dass sie die bessere Wahl gewesen wäre.

04/18/19

Wabi Sabi – wie ein japanischer Ausdruck meinen künstlerischen Ansatz erläutert

Bevor Missverständnisse entstehen: Ich bin kein irgendgearteter Japan-Fan – ich eigne mich als „Fan“ (ganz gleich wovon oder von wem) zugegebenermaßen grundsätzlich ohnehin recht wenig –. Die japanischen Landschaften, so ich sie kenne, empfinde ich in vielen Fällen als eher trist und bedrückend; ich weiß genug von der japanischen Esskultur, um eingestehen zu müssen, dass ich in diesem Land vermutlich verhungern müsste; ich halte nichts von Spiritualität, die im japanischen Alltag als Glaube und Aberglaube eine große Rolle spielt; und der so krampfhafte wie naive Versuch des Westens und insbesondere seiner weiblichen Bewohner, asiatische Medizinen, Ernährungs- und Sportarten unreflektiert und gerade unter dem Vorwand der Reflexion zur allgemeingültigen Weisheit und Wahrheit, zur Rettung des Abendlandes und der eigenen Lebensführung erheben zu wollen, löst in mir Fluchtreflexe und Distanzierungsinstinkte aus.

Sehr wohl allerdings sprechen mich einige Aspekte der japanischen Alltagsästhetik und vor allen Dingen die japanische Einstellung zu Kunst, Handwerk, Kunsthandwerk und Design durchaus an, denn viele von ihnen sind ein Spiegel meiner eigenen Sicht meiner Aufgabe: Die unaufgeregte, ja natürliche Balance zwischen persönlicher Demut und höchstem Qualitätsanspruch, zwischen dem unerlässlichen Streben nach Perfektion im eigenen Tun und der bedingungslosen Liebe zur Schönheit des Unscheinbaren in Natur und Gegenständen, zwischen einer bescheidenen Handwerksanschauung und einer komplex ausformulierten Werkphilosophie, zwischen einem schlichten und ruhigen, von Forschung und Suche geprägten Leben und der starken Treue zu Idealen und analogen Traditionen, zwischen respektvollem Bewahren und freudigem Experimentieren entspricht ganz und gar dem, was ich als Sinn der künstlerischen Arbeit betrachte, und dem, was ich hier in Deutschland vermisse. Diese Werte, die in Japan insbesondere in der hohen Anerkennung und in der gelebten Praxis des Kunsthandwerks ihren Ausdruck finden, sind seit jeher auch meine, auch wenn ich sie nicht zum Vorbild nahm und mir meine Nähe zu ihnen erst sehr spät, in letzter Zeit nämlich, und eher zufällig bewusst wurde.

Die japanische Sprache ihrerseits ist für Menschen, die Text lieben, auch dann ein reizvolles Forschungsgebiet, wenn man sie nicht fließend beherrscht. Sie ist vielschichtig und einfach zugleich. Eine einzelne Silbe, ein Wort können die Bedeutung eines vollständigen Satzes haben und enthüllen eine zutiefst charmante, zuweilen amüsante und immer entwaffnend poetische Betrachtungsweise der einfachsten Dinge.

„Wabi Sabi“ ist einer dieser gedichtartigen Ausdrücke, die eine ganze Welt mit und in all ihren Facetten zusammenfassen. Bis vor kurzem wusste ich nicht einmal um die Existenz dieses Begriffs, noch weniger wusste ich, dass der Westen ihn mittlerweile als Lifestyle- und Einrichtungstrend entdeckt hat und halb (und deshalb falsch) rezipiert bedauerlicherweise zum Hype des Unperfekten und zur Ausrede der Nachlässigkeit missbraucht.
Tatsächlich ist „Wabi Sabi“ ein verflochtenes und mosaikartiges ästhetisches Konzept, das programmatisch dazu mahnt, das vermeintlich Unscheinbare oder Beschädigte zu (betr)achten, dessen Schönheit zu ergründen und zu ehren, und jenseits der alles überstrahlenden Kraft des Perfekten und Neuen gerade die kleinen, alten und gebrauchten Gegenstände in ihrer faszinierenden Fragilität, ihrer bezaubernden Schlichtheit, Flüchtigkeit, Wesentlichkeit, Vergänglichkeit, Gebrochenheit, Zerrissenheit und Reife zu sehen, zu lieben und zu zeigen, ihren Geschichten zuzuhören, festzuhalten und zu erzählen, ja zum Gegenstand der Kunst und aller Ästhetik zu machen.
Perfektion wird wiederum in der Betrachtung und Detailgenauigkeit erwartet, sowie in der Vielfalt und Tiefe des lang tradierten handwerklichen Könnens, das zur zu bewahrenden Kostbarkeit erklärt wird.

Es war für mich eine Überraschung – wie ich zugeben muss –, zu entdecken, dass ich mit meinem Ansatz des Sehens und des Festhaltens der kleinen Dinge und der Zerbrechlichkeit des Augenblicks also nicht alleine dastehe.
Der Begriff „Wabi Sabi“ erscheint nicht auf meiner Website und ist nicht Teil meines Statements, denn es ist nicht so, dass ich mich diesem Prinzip anschließe oder angeschlossen hätte: Vielmehr ist diese Einstellung für mich natürlich, mit meiner Denkart eng verwandt. Es war schon immer meine Art zu sehen und zu schreiben, und sie ist der wichtigste Antrieb meiner Arbeitsweise und meines privaten Alltags. Im Profil meines Twitter-Accounts wiederum habe ich vor wenigen Tagen die Zeile „Wabi Sabi Text Art“ hinzugefügt, denn dieser Ausdruck eignet sich in der Konzentration der Informationen, die er liefert, ganz wunderbar für ein Medium, in dem alles in nur wenigen Zeichen wiedergegeben werden muss, und das sich eher der breiten Masse widmet.

Vor allem aber geht es mir um Trost, Mut, Schaffensfreude und Selbstbild. Es tut mir gut, zu wissen, dass ich nicht einfach ein lächerliches Relikt aus analogen Zeiten bin, dass meine Suche und meine Art von Ästhetik von anderen als sinnig empfunden und geteilt wird. Es gibt mir Kraft, zu erfahren, dass Künstler und Kunsthandwerker, wenn auch Tausende von Kilometern entfernt, unbemerkt, gesichtslos und unprätentiös, ohne Anbiederung und Kompromisse, oft ohne Website und Social Media-Profile sogar, jedoch mit aufrichtiger Passion und größter Selbstverständlichkeit, ihrem leisen, beständigen Weg und ihren Überzeugungen folgen und auf diese Weise wunderschöne, einzigartige und unermesslich wertvolle Dinge erschaffen – und dies mit (auch wirtschaftlichem) Erfolg tun.

„Wabi Sabi“ bedeutet für mich, dass es außerhalb des Landes der Ingenieure, der Technik-, KMU- und MINT-Gläubigkeit, außerhalb der vielen Marketingzwang-Universen, tatsächlich doch noch kleine verwunschene Welten gibt, in denen Echtes und Schönes einen wirklichen Stellenwert haben.

01/19/17

Nach Facebook – die Retrospektiven

NACHTRAG ZUM 25. MAI 2018: AUFGRUND DER EINFÜHRUNG DER DSGVO UND DER DAMIT VERBUNDENEN RECHTLICHEN UNSICHERHEITEN UND RISIKEN WERDEN DIE RETROSPEKTIVEN NICHT MEHR ANGEBOTEN.

Das letzte Frühjahr war eine Zeit der inneren Zerrissenheit – zwischen gesundem Instinkt und belehrenden Stimmen, zwischen Konsequenz und eingeredetem schlechtem Gewissen, zwischen Vernunft und Zweifeln. Letztlich siegte folgerichtig die Selbstbestimmung, und ich habe meine Facebook-Seite aufgegeben.

Dies bedeutet nicht, dass ich etwas gegen Facebook hätte. Ich würde jedem lokalen Ladengeschäft, jedem Online-Shop, jedem Start-up mit einem konkretem Produkt, jedem ambitionierten Blogger, jedem Karrieristen und jedem bildenden Künstler sogar vermutlich empfehlen, eine Fanpage aufzubauen. Für mein Geschäftsmodell und meine Kundenstruktur ergibt diese Plattform aber keinen Sinn.
Vieles in den letzten Monaten hat meine Entscheidung bestätigt.

TextLoft hat unterdessen eine andere Art der Kommunikation gewählt. Wer wissen will, was im Einzelnen hinter den Kulissen geschieht, kann nun die Retrospektiven abonnieren.

Die Retrospektiven sind ein analoger, zum Teil handgestalteter Newsletter, der ausschließlich auf Papier erscheint, ausschließlich per Post bestellbar ist und zugestellt wird, und in dem in unregelmäßigen Abständen – höchstens alle vier Wochen und mindestens alle drei Monate – Neuigkeiten aus dem TextLoft veröffentlicht werden. Während das Blog bildlichen Schnappschüssen oder Fachartikeln vorbehalten bleibt, erzählen die Retrospektiven kurze Anekdoten aus dem Arbeitsalltag, geben Einblicke in kleine Randmomente – ob es sich um Kundenstimmen, um den Erfolg oder Misserfolg eines Mailings, um die Freude, die an einem schlechten Tag eine einzige Zeile in einer eMail schenkt, um ein technisches Ärgernis oder um persönliche Überlegungen handelt –, und fassen Aktivitäten wie Blogveröffentlichungen oder besondere Projekte zusammen, die hier sonst keine Erwähnung finden. Ich habe die Bezeichnung „Retrospektiven“ gewählt, weil der Begriff gleichermaßen Rückblick und Werkschau bedeutet, sich also an der Schnittstelle zwischen Alltag, Fazit und Kunst bewegt und deshalb perfekt zu TextLoft passt.

Wie Die Retrospektiven zu abonnieren sind, ist in der Sidebar zu finden.

Kritik und Antwort
Das Verfahren mag umständlich klingen, aber es hat zwei Gründe.
Zunächst war es mir wichtig, eine auf jeden Fall rechtssichere Modalität zu wählen. Als ich mich über die Datenschutzbestimmungen für den Versand von Newslettern kundig machte, las ich wiederholt, dass in Deutschland 90% der Newsletter nicht rechtssicher und somit abmahnfähig sind. Ich bin es müde, mich jede Woche um die neuesten Auslegungen und die abwegigsten Urteile zu bemühen, die die Rechtslage unentwegt ändern und verkomplizieren, und wollte eine Möglichkeit finden, die absolut über jeden Zweifel erhaben ist.
Des Weiteren – und es ist mir nicht minder wichtig – entspricht ein analoger Newsletter ohnehin dem Geist von TextLoft, weil das Abonnement eine aktive Willenserklärung, somit ein tatsächliches inhaltliches Interesse erfordert, und durch die Papierform eine hohe Qualität gewährleistet werden kann.
Dieser Weg ist übrigens trotz der Verwendung von Papier durchaus nachhaltig und nicht weniger ökologisch als ein digitaler Newsletter. Zu oft wird ignoriert, wie viele Ressourcen durch die nicht unbedingt erforderliche Versendung von eMails und den Unterhalt überbeanspruchter Server verschwendet werden. Einige Briefe im Jahr sind im Vergleich ein recht harmloses und umweltschonendes Vergnügen.

Die Retrospektiven werden mehr als ein Newsletter im traditionellen Sinne sein. Sie werden in der Praxis zeigen, wie vielfältig auch ganz alltägliche Informationen vermittelt werden können und inwiefern ein künstlerischer Textansatz dazu beitragen kann. Sie werden außerdem beweisen, wie kostbar analoges Marketing auch heute noch sein kann.

NACHTRAG ZUM 25. MAI 2018: AUFGRUND DER EINFÜHRUNG DER DSGVO UND DER DAMIT VERBUNDENEN RECHTLICHEN UNSICHERHEITEN UND RISIKEN WERDEN DIE RETROSPEKTIVEN NICHT MEHR ANGEBOTEN.

02/16/15

Der ärgerlichste Satz der Welt

Neun kleine Silben, die mit schöner Regelmäßigkeit fröhlich und arglos in die Runde geworfen werden. Es klingt harmlos. Aber für mich bilden sie den ärgerlichsten Satz der Welt: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.”

Ärgerlich ist dieses Geflügelte Wort für mich nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht, weil Unternehmen sich bei knappem Budget im Zweifelsfall für das Bild und gegen den Text entscheiden.
Was mich daran regelrecht wütend macht, ist, dass dieser Satz zutiefst falsch, zutiefst dumm und infolgedessen zutiefst gefährlich ist.

Wenn es wirklich so wäre, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte, würden wir uns noch immer ausschließlich Stummfilme anschauen. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass Texte, namentlich Dialoge, nicht nur überflüssiges Beiwerk sind, sondern Drehbuch und Bilder gleichermaßen wichtig und für ein gelungenes Ergebnis unentbehrlich sind. Ohne intelligente Texte gibt es keine intelligente Darstellung und nur sehr rudimentäre Geschichten, die über Klamauk nicht hinausgehen. Selbst einfachste Formen der Erzählung wie Comics und Cartoons nutzen Bild UND Text. Kunstkataloge und Abermillionen Seiten kunstgeschichtlicher Analysen von Gemälden, Skulpturen und Installationen zeugen davon, dass Bilder durchaus Text brauchen, um in all ihren Facetten verstanden und genossen zu werden. Bildende Künstler, die es ja wissen müssen, veröffentlichen auf ihren Internetseiten – mitunter sehr wortreich – ihre Statements und beweisen hinlänglich, dass sie sehr wohl um die Notwendigkeit und den Wert einer textlichen Vorstellung ihrer Werke wissen. Bilder brauchen Worte, sie ersetzen sie nicht.

Dieser Satz ist auch deswegen entsetzlich dumm, weil er zeigt, dass hier zwischen Information, Mitteilung und Kommunikation nicht unterschieden wird.
Für die einfache Kennzeichnung eines Gegenstands mag in einigen Fällen ein Bild, im konkreten Fall ein Piktogramm genügen: „Da ist eine Toilette”, „dort ist ein Notausgang”, „in 1000 m Essensmöglichkeit”. Für eine wirkliche Information, eine Mitteilung oder differenzierte Kommunikation – insbesondere Unternehmenskommunikation –, aber auch jede Form zwischenmenschlicher Interaktion, die über das bloße Zeigen auf etwas hinausgeht, die also im eigentlichen oder erweiterten Sinne einen Dialog darstellt, ist das zu wenig. Der Satz, ein Bild sage mehr als tausend Worte impliziert in diesem Kontext nichts anderes, als dass wir wirkliche Kommunikation nicht mehr brauchen und nicht mehr wollen, dass wir uns mit einem ausgestreckten Mittelfinger begnügen wollen und uns ein Streit nicht mehr als Inhalt und Austausch interessiert, dass wir hiermit also unsere spezifische Eigenschaft als Mensch mutwillig aufgeben und uns freiwillig auf die Entwicklungsstufe putziger haariger Primaten zurückbegeben.
Wenn ein Bild mehr sagen würde als tausend Worte, hätte der Mensch niemals den Drang verspürt, eine Sprache in Form von Graphemen und Lexemen zu entwickeln. Er würde weiterhin grunzend auf Dinge zeigen und sich mit Zeichnungen an Höhlenwänden verewigen. Der Glaube, dieser dumme Satz hätte tatsächlich irgendeine Form von Berechtigung, zeugt also in erster Linie von primitivem und kulturfernem Denken.

In Kategorien von Unternehmenskommunikation und Produktvorstellungen bedeutet der Verzicht auf Text, dass der Kunde mit einem Bruchteil dessen, was ihm bei der Kaufentscheidung helfen sollte, auskommen muss und wie ein süßes Äffchen mit begrenztem Verstand und Gefühlsleben behandelt wird – eine in Zeiten, in denen Angebote sich immer weniger objektiv voneinander unterscheiden, gefährliche Strategie.

Ein Bild ersetzt keinen Text. Idealerweise unterstützt es einen Text. Es kann ihn schmücken, unterstreichen, sogar einleiten. Tausend Worte aber können es erweitern, präzisieren, erklären, vertiefen. Ein Bild kann ein Rahmen sein, ein Detail festhalten, einen Augenblick einfrieren. Ein Text kann Zwischentöne modellieren, die Zeit strecken, raffen und verwischen. Ein Bild kann einen wichtigen Aspekt einer Sache verdeutlichen. Ein Text kann alle Facetten eines Bildes aufdecken.
Ist ein Text ein eingerichteter Raum, so ist das Bild mit einem Blumenstrauß zu vergleichen. Es ist die letzte Kleinigkeit, die die Dinge schöner macht. Es ist nicht die ganze Einrichtung.

Ein Bild sagt nicht mehr als tausend Worte. Ein Wort kann tausend Bilder erschaffen.

12/21/14

Meilensteine

Der Fall der Berliner Mauer oder die Anschläge des 11. September sind Meilensteine der Geschichte, die trotz der seither verstrichenen Zeit noch nicht ganz den Sprung in die rein theoretische Welt historischer Begebenheiten geschafft haben: Wer alt genug ist, kann sich in der Regel daran erinnern und weiß noch zu sagen, wo er oder sie war und was er oder sie dachte. Diese Tage sind vergangen, aber lebendig und präsent.
Neben solchen übergreifenden Ereignissen kennt jede persönliche Lebensgeschichte ihre eigenen Meilensteine – freudige und traurige, private und berufliche, große und kleine.

Jedes Jahr um die Weihnachtszeit wird mir deutlicher als sonst bewusst, wie sehr eine fast nebensächliche Kleinigkeit mein Leben verändert hat – die Rechtschreibreform.
Sie ist nun schon länger in Kraft, aber die Einschnitte, die sie für mich bedeutet hat, sind tiefgreifend, vielfältig und erstaunlich gegenwärtig.

Die beruflichen Aspekte waren dabei fast unerheblich.
Ich biete meinen Auftraggebern an, die Rechtschreibung zu wählen, die ihrem Selbstverständnis oder ihrem Geschmack entspricht. Wenn ich um Rat gebeten werde, empfehle ich die gemäßigte Rechtschreibung, die die größte Akzeptanz findet. Diese Mechanismen waren schnell erlernt.

Viel gravierender und präsenter sind die Auswirkungen der Rechtschreibreform heute auf mein privates Verhalten.
Zunächst lebe ich seitdem in einer Art Trichotomie. Handschriftliche Texte – also auch private Korrespondenz – schreibe ich in Alter Rechtschreibung. Sie ist logischer, sinnlicher, ästhetischer, sprachfreundlicher und einfach „richtiger”, wie das im Internet reichlich kommentierte Beispiel von Erich Kästners heißersehnten Kartoffeln zweifelsfrei zeigt. Berufliche Korrespondenz und eMails tippe ich, wie alle Texte, die ich am Computer entwerfe, in gemäßigter Rechtschreibung. Meine Blogs wiederum schreibe ich zwar im Prinzip in gemäßigter Rechtschreibung, jedoch unter Umgehung der Regeln und Vorgaben, die ich als zu sprachverunstaltend betrachte.
Neben solchen erworbenen Eigenheiten hat die Rechtschreibreform mein Kaufverhalten stark verändert: Bücher, die vor 1996 verfasst wurden, kaufe ich nur noch im Antiquariat in entsprechenden älteren Ausgaben – ich weigere mich, die schöne Sprache Stefan Zweigs etwa durch dieses unsägliche politische Trauerspiel verstümmelt zu lesen. Ebenso verschenke ich heute keine Klassiker der deutschen Literatur mehr. Überhaupt kaufe ich auch für mich weniger Bücher und flüchte stattdessen lieber zu den guten alten Freunden in meiner Bibliothek.

Die Rechtschreibreform war nicht mehr als eine hässliche Fußnote der Bildungspolitikgeschichte und hat die große Bedeutung sicher nicht verdient, die ihr zuteil wurde. Für mich wurde sie zu einem Meilenstein – einem kleinen, aber deprimierenden.

12/14/14

Mein Giftschrank

Ein kleiner Balkontisch, der nach einer hartnäckigen Abfolge nicht eintretender Sommer seinen Sinn eingebüßt hatte, wurde im Laufe der Jahre immer mehr zu einer Hilfsablage umfunktioniert, die heute einen festen Platz neben meinem Schreibtisch hat. Zwei Karteikästen mit Blogplänen und Kundenkartei sowie verschiedene, täglich benötigte Hefte und Notizbücher sind so in Reichweite, ohne die ohnehin immer zu knappe Arbeitsfläche einzuengen.

Fast unscheinbar in der unteren rechten Ecke des Tischchens liegt ein schwarzer Notizblock. Dass die Farbe des Einbands so ideal zu Inhalt und Zweck passt, ist zugegebenermaßen reiner Zufall, entbehrt jedoch nicht eines gewissen Humors. Dieses Büchlein ist nämlich mein Giftschrank.
Bevor Missverständnisse entsehen: Es sind darin keinerlei Mordpläne oder -methoden verzeichnet. Tatsächlich enthält es eine Vielzahl von Blogartikeln, Kolumnenentwürfen, Buchideen und Aphorismen. Mittlerweile ist der „Giftschrank” gut gefüllt und würde genug Material für mehrere Blogs bieten. Aber vermutlich wird niemand diese Texte je zu lesen bekommen.

Es ist nicht so, dass ich zu schüchtern wäre, sie preiszugeben, oder dass sie mir peinlich wären. Sie sind absolut jugendfrei und weder persönlicher noch politischer Natur. Sie befassen sich vorwiegend mit Themen des Zeitgeistes, des Alltags in der analogen und digitalen Welt, mit der Beobachtung bestimmter Verhaltensmuster des unkritischen Denkens und mit ihren folgenschweren gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Auswirkungen.
Es klingt harmlos und unverfänglich, und dennoch wäre es ein rechtlich unkalkulierbares Risiko, sie zu veröffentlichen – denn sie könnten gegen eine ganze Reihe deutscher Gesetze verstoßen, die die (so die offizielle Terminologie) „Schranken” der Freien Meinungsäußerung regulieren.

Mein Giftschrank ist ein Ventil, aber durch den selbstverhängten Maulkorb fungiert es nur bedingt als solches. An schlechten Tagen ist der geheime Schatz mehr Last und Frust denn Befreiung.
An diesen Tagen verschließe ich den Notizblock wieder … und träume von New York.

05/6/14

FAQ für Schreibende

Hat man erst einmal erzählt – wenn auch ungern -, dass man schreibt, gibt es eine Reihe von Fragen, die mit schlafwandlersicher Sicherheit lawinenartig auf einen zukommen: „Seit wann schreibst Du denn?“ „Wie kamst Du zum Schreiben?“ und „Und wieso kannst Du denn so gut schreiben?“.
Diese FAQ kommen vorzugsweise gerade dann ans Licht, wenn man sie nicht gebrauchen kann: auf einer Party; wenn der Verwalter einen neuen Nachbarn vorstellt und sich befleißigt fühlt, gleich darauf hinzuweisen, was die anderen Mieter im Haus beruflich denn so anstellen; wenn Menschen aus dem Viertel, die man zum Beispiel zufällig bei der Gartenarbeit kennengelernt hat und mit denen man ab und zu Small Talk pflegt, irgendwann auffällt, dass man den lieben langen Tag zu Hause verbringt und nicht ersichtlich ist, womit man sein Geld verdient … Es gibt so viele Gelegenheiten dazu. Zu viele.
Selbst dann, wenn die Situation bekannt und bereits erwartet wird, ist sie nicht ohne Weiteres zu meistern. Der Umstand, in den unpassendsten Momenten urplötzlich unter gaffenden bis bewundernden Blicken im Mittelpunkt stehen zu müssen, ist nur ein Aspekt dieser Peinlichkeit. Viel schlimmer ist die Tatsache, dass es darauf keine Antworten gibt –  genauer gesagt keine, die als solche empfunden und akzeptiert würden.

Erfahrungsgemäß haben sich im ersten Fall „Schon immer“ oder „Soweit ich zurückdenken kann“ als für das Gegenüber wenig befriedigend erwiesen. Die nächste Frage folgt auf dem Fuße: „Was meinst Du mit: ‚schon immer’?“ Dann wird es heikel. Erwartet derjenige etwa wirklich Einzelheiten? Die ganze Geschichte in aller Ausführlichkeit? Soll ich vielleicht, damit er Ruhe gibt, erzählen, dass ich schon als Kleinkind Bücher für meine Puppen schrieb und es für meinen Schreibdrang nie genug Papier im Haus geben konnte, und damit mitten auf einer Hochzeit, Beerdigung oder einer Geburtstagsfeier, die nicht einmal meine ist, eine Aufmerksamkeit, die ich auf keinen Fall will, auf mich ziehen? Es ist eher nicht meine Art, und der Satz „Ich habe schon als Kind geschrieben“ ist in den meisten Fällen nachweislich kein kluges Ausweichmanöver, denn ein bohrendes „Ach ja? Was denn? Und wie alt warst Du da?“ lässt nie lange auf sich warten. Das selbstironische und abwinkende „Ach, schon ewig“ hingegen vermag es zwar hie und da, eine gewisse abwehrende Haltung und Distanz zu vermitteln, aber nur bedingt, und dies ist nicht von langer Dauer. Ist der Zeitpunkt schon nicht zu ermitteln, dann muss ja wohl zumindest das „wie und warum“ herauszubekommen sein. Womit die zweite häufig gestellte Frage erreicht ist.

Der Erfolg einer ehrlichen Antwort hängt hier stark vom Bildungsgrad und Feingefühl des jeweiligen Gesprächspartners ab. Ein ernstgemeintes „Ach, ich kann gar nicht anders“ setzt manchmal durchaus den ersehnten Schlusspunkt – sei es, weil derjenige aufgrund seines akademischen Hintergrunds in der Tat nachvollziehen kann, was gemeint ist, sei es, weil er mich dann für eine kauzige und überhebliche Verrückte hält und um sein Leben fürchtend das Weite sucht. Schlimmstenfalls aber geht das Verhör unbeirrt weiter, und minutenlang schaue ich in leere, fragende Augen, bis endlich eingesehen wird, dass von mir wohl keine vernünftige, für alle verständliche und als gültig zu betrachtende Erklärung zu erwarten ist und ich vermutlich der langweiligste oder exzentrischste Mensch – was im Grunde ja das Gleiche ist – auf der Veranstaltung bin. Hilfreicher ist die achselzuckende Variante, es habe sich so ergeben, nach der man nur noch als öde, aber zumindest nicht als seltsam betrachtet wird.

Bei der dritten FAQ ist es ein wenig anders. Kennt derjenige meine Arbeiten nicht, ist das Thema schnell ausgeräumt: Mit der von einem verschmitzten bis charmanten Lächeln unterstrichenen Bemerkung, ich könne es eigentlich gar nicht so gut, täte es aber trotzdem, ist die Sache in der Regel erledigt.
Bezieht sich die Frage konkret auf meine Texte, wird es wieder recht unangenehm. Ganz gleich, für welchen Weg ich mich entscheide – er ist der falsche. Sage ich, dass ich schon immer so schreiben konnte und nicht weiß, warum, umgibt mich die unangenehme Aura des überheblichen Genies, dem alles zufliegt und das unfair spielt, weil die Natur ihm etwas gegeben hat, was andere nicht haben können. Und das mag niemand. Erzähle ich, dass ich schon als Kind Tausende von Büchern gelesen habe und ich darin einen Zusammenhang sehe, gehöre ich in die Schublade der rechthaberischen Streber, der obendrein noch etwas verschweigt, denn so einfach kann die Lösung ja nicht sein. Das mag auch keiner. Erkläre ich, dass ich Dinge schlichtweg gern beobachte und festhalte, so wie andere eben eine Kamera zücken, und ich deswegen das dazu nötige Werkzeug immer wieder und jeden Tag zu verbessern versuche, klingt es abgehoben und reichlich verschroben. Als Begründung kommt es nicht durch und auch nicht gut an. Erzähle ich, dass Schreiben nichts als Handwerk ist, bin ich ein lästiger Oberlehrer oder wahlweise falsch bescheiden. Das ist ebenso wenig vorteilhaft.

Ob mich diese FAQ deutlich in Verlegenheit bringen oder ich sie lediglich als lästig empfinde, hat hauptsächlich mit Tagesform und Laune zu tun. Im Nachhinein muss ich nicht selten schmunzeln und frage mich, ob auch Kunstmaler oder -fotografen ähnliche auch erdulden müssen. Interessanterweise fragt so gut wie niemand, was ich eigentlich so schreibe …

01/11/10

Weihnachtszeit ist Lesezeit

Jedes Jahr aufs Neue nutze ich die freie Zeit, die die Weihnachtstage und der Leerlauf bis zum Neuen Jahr mit sich bringen, für ausgedehnte Lesestunden. Das Telefon bleibt stumm, der Computer bleibt ausgeschaltet, so dass ich vom aufdringlichen Erklingen der mit dem Eintreffen neuer eMails verbundenen Melodie verschont bleibe, die Witterung lädt zuverlässig dazu ein, die Flucht nach draußen auf andere Art zu ergreifen.
Zu den Werken, die dieses Jahr die Woche zwischen den Feiertagen zu einem erholsamen Erlebnis werden lassen sollten, gehörten insbesondere Umberto Ecos „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“ und Jan Assmanns Abhandlung „Die mosaische Unterscheidung“. Obwohl Ersteres 2004 in deutscher Sprache (und in zweiter Auflage 2006) erschien, ist es ebenso wie der 2003 veröffentlichte Essay in alter Rechtschreibung gedruckt. Dank und Bewunderung sollten beiden Verlagen gezollt werden, die einen Mut und eine Konsequenz beweisen, die ich mir aus kommerziell-wirtschaftlicher Sicht in diesem Blog leider nicht leisten darf.

10/7/08

Das Interview

Es geschah am 16. April 2008. Kurz vor 15 Uhr rief mich ein Journalist an. Er war freundlich, klang jung, erklärte mir hastig nuschelnd und doch wenig routiniert, bei welcher Zeitung er beschäftigt war, wobei er offenbar voraussetzte, dass ich sie kennen würde, und bat mich um ein Interview. Zum Welttag des Buches wolle seine Zeitung eine Artikelserie veröffentlichen – ob ich bereit wäre, mich zu einigen Aspekten meines Berufes zu äußern. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich wirklich dem Profil entsprach, nach dem er suchte, und ich ihn gefragt hatte, wann er denn kommen möchte, erklärte er, er könne eben nicht vorbeikommen, die Zeit sei zu knapp, denn er müsse noch am Abend in Druck gehen, und fragte, ob er mich eine halbe Stunde später wieder anrufen dürfe, wir könnten das auch schnell telefonisch „machen“.

Ich hatte nichts dagegen. Was es mit diesem Frage-und-Antwort-Spiel auf sich hatte, war mir vollkommen klar: „Der Junge“, wie ich ihn in Gedanken bereits nannte, hatte noch eine Spalte übrig und hatte so lange gegoogelt, bis er einen Weg gefunden hatte, sie ohne zu viel Aufwand zu füllen. Möglicherweise – oder sogar wahrscheinlich – hatte er den halben Tag am Telefon verbracht, und ich war einfach zufällig die erste auf seiner Ergebnisliste, die tatsächlich abgehoben oder Zeit für ihn hatte. Er hatte ganz sicher noch nie zuvor von mir gehört, geschweige denn eine einzige Zeile von mir gelesen, aber das war ihm und mir vollkommen gleichgültig: Er war nett, höflich, merklich gestresst, und schon deshalb tat er mir ein wenig leid. So war ich gerne bereit, ihm behilflich zu sein. Warum auch nicht? Den Artikel würde vermutlich ohnehin überhaupt niemand lesen, und die wenigen, die es doch tun würden, würden ihm genauso wenig Bedeutung beimessen, wie ich selbst. Ein typischer Feuilleton-Lückenfüller.

Bereits zwanzig Minuten später klingelte wieder das Telefon, und ich schmunzelte, als die Nummer auf dem Display erschien. „Der Junge“ stand zeitlich offensichtlich wirklich sehr unter Druck. Höflich erklärte er, er würde unser Gespräch auf Tonband aufzeichnen, ich müsse aber deswegen nicht nervös werden – ich verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass ich die Prozedur bereits kannte und schon Interviews gegeben hatte, als er noch Windeln trug. Nachdem er den Recorder eingeschaltet hatte, erledigte er die Formalitäten, durch die bestätigt wurde, dass ich mit Gespräch und Mitschnitt einverstanden war, und stellte seine Fragen.
Sie waren erwartet harmlos, pauschal und klischeehaft gehalten. Ich tat ihm den Gefallen, so zu tun, als merkte ich es nicht, und es war ihm deutlich anzuhören, dass ihn die Antworten nicht wirklich interessierten und trotz meiner Bemühungen, einfach zu formulieren und so allgemein zu bleiben, wie nur möglich war, auch mitunter völlig überforderten. Nach weniger als einer Viertelstunde hatte er seine Fragenliste abgearbeitet und verabschiedete mich mit dem Versprechen, er würde mir den Artikel zur Freigabe per eMail zusenden, was ich durchaus begrüßte, denn ich erinnere mich an zahlreiche Interviews, nach denen ich sehr erstaunt gewesen war, am gedruckten Text festzustellen, was ich da von mir gegeben haben sollte.
Ich rechnete nicht allzu sehr damit, und im Grunde war es mir ganz gleich, aber „der Junge“ hielt Wort. Gegen 16 Uhr bekam ich das Skript, korrigierte Etliches, das er schlichtweg falsch verstanden oder wiedergegeben hatte, half ihm noch, eine Textstelle zu verlängern, die ihm zu kurz geraten war, schlug einige stilistische Änderungen vor, die bei aller Unerfahrenheit eigentlich ihm hätten auf- und einfallen müssen, und schickte den Artikel schließlich zurück. Er bedankte sich artig, schmeichelte mir pflichtbewusst und einigermaßen professionell, indem er sagte, er habe die Zusammenarbeit als besonders angenehm empfunden, und fragte, ob er mich für weitere ähnliche Interviews zu verwandten Themen wieder anrufen dürfe.

Nachdem dieses für mich recht witzige kleine Intermezzo abgeschlossen war, widmete ich mich wieder meinen Verpflichtungen, die an jenem späten Nachmittag darin bestanden, mich anzuziehen und in der Stadt verschiedene Dinge zu erledigen.

Ich schickte mich gerade an, das Haus zu verlassen, als das Telefon klingelte. Beim Anblick der Nummer auf dem Display grinste ich übers ganze Gesicht – „der Junge“ brauchte offenbar wieder eine Kleinigkeit. Eigentlich wollte ich weg, aber er war sehr nett gewesen, auch ein wenig unbeholfen, und aus Mitgefühl mit einem Anfänger ließ ich mich doch vom Klingelton erweichen.
Das Interview habe seinem Chefredakteur besonders gut gefallen (ein genügsamer Mann offenbar, denn es war wirklich nichts Besonderes, dafür sorgten schon Format und Leserschaft), aber – erzählte er – Interviews würden normalerweise immer mit einem aktuellen Foto publiziert, damit sich die Leser vorstellen können, wer da was gesagt habe – ob ich ihm noch eines schicken könne.
Die Wahrheit ist: Ich lasse mich nicht gerne und so gut wie nie fotografieren. Die wenigen Bilder, die es von mir gibt, sind schon einige Jahre alt und wenn überhaupt fürs Familienalbum bestimmt, aber ganz sicher nicht drucktauglich: Sie zeigen mich meistens von hinten, von der Seite, oder fangen auf, wie ich mich verstohlen bemühe, mich dem Blickfeld des Fotografen und seinem Objektiv zu entziehen. Aber ich wollte „dem Jungen“ ja helfen, suchte fieberhaft in meinem Gedächtnis nach etwas halbwegs Passendem und erinnerte mich, dass ich noch irgendwo in einer bestimmten Schublade fünf Jahre alte Passfotos behalten hatte, die übrig geblieben waren, als ich meinen neuen Personalausweis beantragt hatte. Sie waren nicht besonders gelungen oder gar vorteilhaft, aber es musste genügen. Ein wenig ungeduldig kramte ich sie hervor, scannte eines davon, schickte es „dem Jungen“, erklärte ihm mit knappen eiligen Worten, dass dies ein klassischer Fall von „das oder gar nichts“ sei, und ich im Übrigen gleich nicht mehr zu erreichen sei.
Ich unternahm gerade den zweiten Versuch, das Haus zu verlassen, als das Telefon erneut klingelte. Auf dem Display leuchtete die inzwischen vertraute Nummer. Die Druckerei habe das Bild für nicht gut genug befunden, die Auflösung sei zu schlecht, er benötige ein anderes. Ich machte ihm klar, dass ich kein anderes hatte, mich nun außerdem um andere Dinge zu kümmern hätte, und legte etwas gereizt ob so wenig Flexibilität auf. Ein Interview ohne Bild zu veröffentlichen, kann ja wohl nicht so schlimm sein, dachte ich letztlich, als ich die Tür hinter mir schloss.

Als ich gegen 18 Uhr 30 nach Hause kam, blinkte der Anrufbeantworter wie der sprichwörtliche Weihnachtsbaum. „Der Junge“ hatte noch zweimal um ein Foto flehend angerufen, eine andere, dem Wortlaut nach erfahrenere Redakteurin gleich viermal, für zwei weitere Anrufe, bei denen keine Nachricht hinterlassen worden war, erschien dieselbe Nummer auf dem Display. Es sei absolute Hauspolitik, sagte die weibliche Stimme, dass jedem Interview ein Foto beizuliegen habe, ich sollte mich unbedingt vor 17 Uhr 30 melden, sie könne auch einen Lokalfotografen zu mir schicken, wenn ich wirklich nichts anderes hätte, ein Bild sei aber unbedingt erforderlich.
Ich staunte nicht schlecht. Der Inhalt des Interviews war es für „den Jungen“ nicht wert gewesen, zu mir zu kommen und mich persönlich zu treffen, dafür war keine Zeit übrig gewesen. Aber für ein der Sache nicht im geringsten wirklich dienliches und somit völlig überflüssiges Bildchen war offenbar eine ganze Redaktion bereit, allen Geschwindigkeitsbegrenzungen zum Trotz einen relativ langen Weg auf sich zu nehmen, um die Deadline einzuhalten. Es genügte nicht mehr, dass die ohnehin wenigen Leser, die den Artikel nicht übersehen würden, meinen Beruf durch meine Worte kennenlernten. Genau genommen: Diese waren unwichtig. Ich war sprachlos. Rat suchend wandte ich mich dem Kalender zu. Der kommende Tag sollte tatsächlich Welttag des Buches sein – nicht Welttag der Fotografie – Irrtum ausgeschlossen.

Offenbar liegt in den Medien und deren Interpretation ein grundsätzliches und tiefes Missverständnis vor. Wir leben allem Internet und allen blogosphärischen Ansprüchen zum Trotz nicht in einer mit aller Gewalt expandieren Informationsgesellschaft, die Inhalte ohne Sinn und Verstand und ohne Rücksicht auf Verluste wie am Fließband produziert und qualitativ undifferenziert austauscht. Das Zeitalter der Information oder Desinformation haben wir bereits und vermutlich längst hinter uns gelassen. Das Einzige, das uns noch verbindet, das vermittlungsfähig ist, ist das allmächtige Bildchen.
Interviews wie dieses, Piktogramme an Flughäfen, Bahnhöfen und Regalen von Supermärkten, Montageanleitungen berühmter skandinavischer Möbelhersteller, Blogs, beliebte Videoplattformen machen es deutlich: Die visuelle Gesellschaft hat nivellierend den Text zu Grabe getragen. Und wir sollten ihr dafür danken. Denn nachdem Schreiben und Text nicht mehr notwendig sind, nicht mehr instrumentalisiert der Kommunikation dienen müssen, nachdem sie nur noch das umständliche und unattraktive Überbleibsel Ewiggestriger geworden sind, haben sie die Möglichkeit, wieder zu dem zu werden, was sie einst waren: Genuss, Kunst, und vor allem geschätzte Luxusgüter.

Ich habe es nach einiger Zeit aus reiner Neugier recherchiert: Das Interview wurde tatsächlich niemals abgedruckt.