03/15/21

Kolumne – ein im deutschen Sprachraum in Verruf geratenes Genre

Kolumnen sind eine sehr alte Textform und im Grunde in vielfacher Hinsicht die Vorgänger mancher heutiger Blogbeiträge. Ihre Geschichte allerdings hat in den letzten Jahren eine unschöne Wendung genommen, und es ist zu befürchten, dass sie dem Zeitgeist anheimfallen – widersprüchlicherweise, leben wir doch in einer Welt, in der jeder über die elektronischen gesellschaftlichen Netzwerke seine Meinung kundtun kann und von dieser Möglichkeit reichlicher bis übermäßiger Gebrauch gemacht wird.

In früheren Zeiten galten Kolumnen nach dem investigativen Journalismus als prestigereiche Sparte des Zeitungswesens. Kolumnist zu werden bedeutete eine Beförderung und ein erhebliches Ansehen.
In der Tat erfordert die Kolumne besondere stilistische Fähigkeiten, die weit über diejenigen hinausgehen, die für die gewöhnliche Berichterstattung notwendig sind. Die wöchentliche Kolumne war in der säkularen Welt der Zeitung das, war der Messe die Predigt war.

Mit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts jedoch begann das Blatt, sich zu wenden. Immer häufiger wurden Kolumnen – in der breiten öffentlichen Vorstellung, aber durch das Aufkommen der Online-Medien und des damit verbundenen Dilettantismus’ auch zum Teil in der journalistischen Szene – mit anderen Formen verwechselt. Die Grenzen zwischen Kolumne, Glosse, Kommentar und Leitartikel wurden zunehmend unscharf. Noch hätten sich die unterschiedlichen Ansätze gegenseitig bereichern können, aber es sollte anders kommen.

Mit der Jahrtausendwende entglitt die Kolumne schließlich dem Journalismus und verlor eines ihrer wichtigsten Merkmale: die Konstante des vertrauten und professionellen Autors. Gastartikeleitelkeit einerseits und die immer dringendere, wirtschaftlich bedingte Unumgänglichkeit eines Gebots der Attraktivität in einer sich selbst aufgebenden Branche andererseits führten dazu, dass der Kolumnist seine Funktion und seine journalistischen Eigenschaften einbüßte. Prominente (oder welche, die es gerne wären) wechselten sich nunmehr ab und änderten die Spielregeln nach Gutdünken und Imageimperativen. Eine verheerende Mischung aus Profilierungssucht und Leserheischerei leitete den Weg zu einem sinkenden Niveau von Textqualität und Themen ein.

Heute ist das Wesen dessen, was eine Kolumne ist und sein sollte, weitgehend vergessen und wird von Lesern überhaupt nicht mehr verstanden, wie die Kommentarfunktion bekannter deutscher Online-Magazine veranschaulicht.
Kolumnen werden besonders gern angegriffen und als grundsätzlich überflüssig betrachtet. Sie sind das bevorzugte Ziel von Rechthabereien und Wortklaubereien und fallen damit, wie viele andere Dinge im Bereich Text, Kunst und Kultur, dem allgemeinen Schrei nach nackten und somit undifferenzierten Daten und vermeintlich objektiven Fakten zum Opfer – als freue sich die Menschheit darauf, endlich von gefühlsneutralen Robotern abgelöst und ersetzt zu werden, als bettelte sie regelrecht darum. Meistens wird nicht die geäußerte Meinung, also der Inhalt kritisiert, sondern das Genre an sich, weil seine Daseinsberechtigung, sein Zweck, seine Absicht und sein Nutzen schlicht nicht mehr bekannt und nicht mehr verstanden werden, und mit einer Reihe falscher Vorstellungen einhergehen.

Dass ein Genre komplett und zudem in relativ kurzer Zeit obsolet wird, ist in der Geschichte des Textes ungewöhnlich und bedauerlich. Dass es ausgerechnet in Deutschland der Fall ist, verwundert allerdings zugegebenermaßen leider wenig. Text- und Formerziehung werden unter dem Vorwand teils historischer Altlasten, die es abzutragen gebe, teils einer erklärten resoluten Zukunftsorientiertheit, tatsächlich wohl eher aufgrund kultur- und mentalitätsgewachsener Denkmuster und Werte grundsätzlich, wissentlich und gezielt vernachlässigt bzw. unterbunden.

So bleibt nur zu hoffen, dass diese Krankheit des Textvergessens nicht allzu sehr um sich greift, sich innerhalb unserer Sprachgrenzen eindämmen lässt und nicht auch noch sie zu einer vernichtenden Pandemie wird.

04/27/14

Wenn alte Freunde sterben

Freundschaften zu pflegen, ist nicht immer einfach. Im Laufe der Zeit ändern sich Dinge, Orte und Menschen. Werte und Prioritäten, Vergangenheit und Zukunft kollidieren zuweilen. Geschichten scheinen an Bedeutung zu verlieren, Gemeinsamkeiten verblassen. Selten und immer seltener begleiten einen Freunde wirklich ein Leben lang. Dies ist umso mehr der Fall, wenn man einen eher künstlerischen Beruf ergreift. Unkonventionelle Tagesabläufe, die egozentrische Konzentration auf für Außenstehende kaum nachvollziehbare Inhalte und die kompromisslose Selbstaufgabe, die mit den paradoxen Verpflichtungen eines Freien einhergehen, sind wenig förderlich. Missverständnisse und ausgelassene Gelegenheiten treiben in ewig fruchtbar gewähnte Böden unmerklich aber stetig Risse, bis aus Dialog Entfremdung und schließlich Schweigen wird. Aber auch unter herkömmlicheren Lebensbedingungen sind – nicht zuletzt durch die Schnell- und Kurzlebigkeit der allen Smileys zum Trotz zunehmend unpersönlicheren Kommunikation, die uns eMails und SMS bescheren – langjährige Beziehungen mehr Herausforderung denn Selbstverständlichkeit.
Schreibende sind hier im Vorteil und haben tatsächlich großes Glück, denn sie kennen auch andere Arten von Freundschaften, die nichts erschüttern kann und in denen sie Halt, Nähe, Geborgenheit, Trost und Freude finden. Dazu zählt natürlich auf jeden Fall die innige Beziehung zur eigenen Bibliothek, aber auch manche Utensilien können zu unersetzlichen Vertrauten werden. Es kann eine Schreibmaschine sein, oder auch etwas ganz Unscheinbares.

Meine beiden engsten Freunde bekam ich im Alter von 11 Jahren.
Der erste ist ein Füllfederhalter der Marke Waterman aus der „Torsade“-Reihe, die kaum jemand noch kennt und über die selbst der Hersteller heute nur noch müde und selbstironisch schmunzelt. Die Goldfeder passte sofort zu meiner komplizierten und eigentlich überhaupt nicht füllertauglichen Handschrift, der Körper war leicht, schmal, perfekt für das sehr hastige Schreiben, und die sogenannten „langen“ Waterman-Patronen sicherten mir trotz der begrenzten Gesamtlänge von weniger als 12 cm einen Tintenvorrat für einen ganzen Tag – ja, ich schrieb schon damals sehr viel -. Von der ersten Sekunde an bestand zwischen uns eine einzigartige Verbindung. Er begleitete mich, wohin meine Reisen mich immer führen mochten, schrieb Prüfungen, lange Briefe, Romane und Sachbücher. Er bewahrte mich vor Heimweh, denn wenn er bei mir war, war ich zuhause. Im Gegenzug wachte ich über ihn und schütze ihn vor allen Fährnissen. Vor einigen Jahren und trotz aller Pflege jedoch brach eines Tages das Gewinde in der Kappe ab. Es dauerte Monate, bis ich endlich jemanden finden konnte, der bereit war, zu versuchen, ihn zu retten. Mir war bewusst, dass Materialwert und Reparaturkosten in keinerlei Verhältnis stehen konnten, aber es war mir ganz gleich, ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, ohne ihn sein zu müssen. Doch dieser erste Zwischenfall war ein Warnsignal gewesen, auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte. Kurze Zeit später begann der Tintenleiter zu lecken, die geliebte Feder kratzte, verhakte sich immer häufiger, bis sie gar nicht mehr schrieb. Dieser Füller mag kein besonders hochwertiges Schreibgerät gewesen sein, aber er war weit über dreißig Jahre lang mein bester Freund. Einige Jahre sind seitdem vergangen, doch der Abschied schmerzt noch immer. Diese Freundschaft war unersetzlich, und die Leere, die er hinterlassen hat, können andere Schreibgeräte nicht füllen. Ich schreibe heute wieder mit Einwegkugelschreibern – wie zu der Zeit, bevor es ihn gab. Er liegt nun geschützt in einer besonders schönen Schachtel … sozusagen für den Rest der Ewigkeit. Und er fehlt mir. Jeden Tag. So ist es eben, wenn gute Freunde sterben.
Ein weiterer treuer Begleiter, der ebenso lang an meiner Seite war, ist ein ganz durchschnittliches Holzlineal, das neben anstrengenden und unbequemen Trips in Reise-, Hand- und Aktentaschen einiges durchzustehen hatte. Es trug von einer unsanften Begegnung mit einer herunterfallenden Enzyklopädie, einem zu heftigen Zwiegespräch mit einem Reißverschluss, einem Machtkampf mit einem Cutter und durch die ungeschickte Spielerei eines Bekannten etliche Blessuren davon, die unser langes gemeinsames Leben spiegeln. Je mehr Jahre vergingen, umso hartnäckiger versuchte ich, die Tatsache zu verleugnen, dass es trotz all seinen Bemühungen seiner Aufgabe, einen annähernd geraden Strich zu ziehen, längst nicht mehr gewachsen war, und ich es gehen lassen sollte. Für seine letzte Ruhe wurde ein Platz gefunden, der der Schönheit seines mittlerweile patinierten Holzes entspricht.

Schreibende denken anders, leben anders und trauern anders. Manchmal eben um einen kaputten Füller und ein abgenutztes Lineal.

01/6/14

Von Neuanfängen

Es begann mit einem Radiergummi und einem Bleistift.
Kurz vor Beginn eines jeden Schuljahres bekam ich von meinen Eltern ab der 2. Klasse – neben den notwendigen Heften, Büchern und sonstigen vorgeschriebenen Utensilien – immer einen neuen Bleistift und ein neues Radiergummi geschenkt. Oft waren die bisherigen kaum benutzt und hätten durchaus für ein weiteres Jahr genügt, aber es spielte keine Rolle. Dieser Brauch, der nicht zuletzt in ihrer Überzeugung gründete, dass man nur mit guten Werkzeugen gute Arbeit leisten könne, sollte für mich auch eine Art vertragliche Verpflichtung sein, im Gegenzug die besten Ergebnisse nach Hause zu bringen. Tatsächlich entging mir die geschäftliche Seite dieses Geschenks in keiner Weise, doch sie störte mich auch nicht. Der brandneue Bleistift und das jungfräuliche Radiergummi wurden im Laufe der Zeit nicht nur zu einer lieb gewonnenen Gewohnheit, sondern auch zu dem festen Bestandteil eines beinahe abergläubischen Rituals, das ich durch Studium, Promotion und Habilitation hinweg beibehielt.
Erst als ich mich selbständig machte und mein Leben nicht mehr durch Schuljahre und Wintersemester rhythmisiert wurde, gab ich diese Tradition auf. Ich tat es sehr ungern, betrachtete ich es doch als Verlust meiner Jugend.

Die Sehnsucht nach einem frischen, strahlend weißen, unbelasteten, euphorisch-verheißungsvollen Neubeginn aber blieb. Der rein kalendarische Umbruch der Silvesternacht vermochte mich in seiner Willkürlichkeit nie zu überzeugen, und die kleinen Surrogate des profanen Alltags wie regelmäßige Entrümpelungsaktionen oder das Umorganisieren von Schubladen boten nur ein sehr blasses und schnell vergessenes Abbild dessen, was Radiergummi und Bleistift bedeutet hatten.
Selbst der Wechsel der Jahreszeiten und jene Neuanfänge, die der Schreibende mit jedem neuen Projekt, mit jeder leeren ersten Seite zu erleben glaubt, waren nur ein schwacher Ersatz. Lediglich ein Umzug vor zehn Jahren beschwor das alte Gefühl wieder herauf.

In den letzten Wochen aber kehrte ein wenig von diesem lang vermissten Hochgefühl zurück. Der Umbau der Homepage und der Blogs, die stringente Neuorientierung von TextLoft, der Gewinn an Einklang, Ehrlichkeit und Selbsttreue, der sich daraus ergibt, kommen der Tabula rasa aus alten Schultagen sehr nah. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt sich das Leben wieder frischer und luftdurchfluteter an. Ob damit ein tatsächlicher Erfolg verbunden ist oder nicht, ist dabei vorerst nicht einmal so wichtig. Und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit habe ich ganz bewusst ein neues Radiergummi aus seiner Verpackung geholt. Ein wunderbarer, hoffnungsfreudiger Augenblick.