Mein Giftschrank

Ein kleiner Balkontisch, der nach einer hartnäckigen Abfolge nicht eintretender Sommer seinen Sinn eingebüßt hatte, wurde im Laufe der Jahre immer mehr zu einer Hilfsablage umfunktioniert, die heute einen festen Platz neben meinem Schreibtisch hat. Zwei Karteikästen mit Blogplänen und Kundenkartei sowie verschiedene, täglich benötigte Hefte und Notizbücher sind so in Reichweite, ohne die ohnehin immer zu knappe Arbeitsfläche einzuengen.

Fast unscheinbar in der unteren rechten Ecke des Tischchens liegt ein schwarzer Notizblock. Dass die Farbe des Einbands so ideal zu Inhalt und Zweck passt, ist zugegebenermaßen reiner Zufall, entbehrt jedoch nicht eines gewissen Humors. Dieses Büchlein ist nämlich mein Giftschrank.
Bevor Missverständnisse entsehen: Es sind darin keinerlei Mordpläne oder -methoden verzeichnet. Tatsächlich enthält es eine Vielzahl von Blogartikeln, Kolumnenentwürfen, Buchideen und Aphorismen. Mittlerweile ist der „Giftschrank” gut gefüllt und würde genug Material für mehrere Blogs bieten. Aber vermutlich wird niemand diese Texte je zu lesen bekommen.

Es ist nicht so, dass ich zu schüchtern wäre, sie preiszugeben, oder dass sie mir peinlich wären. Sie sind absolut jugendfrei und weder persönlicher noch politischer Natur. Sie befassen sich vorwiegend mit Themen des Zeitgeistes, des Alltags in der analogen und digitalen Welt, mit der Beobachtung bestimmter Verhaltensmuster des unkritischen Denkens und mit ihren folgenschweren gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Auswirkungen.
Es klingt harmlos und unverfänglich, und dennoch wäre es ein rechtlich unkalkulierbares Risiko, sie zu veröffentlichen – denn sie könnten gegen eine ganze Reihe deutscher Gesetze verstoßen, die die (so die offizielle Terminologie) „Schranken” der Freien Meinungsäußerung regulieren.

Mein Giftschrank ist ein Ventil, aber durch den selbstverhängten Maulkorb fungiert es nur bedingt als solches. An schlechten Tagen ist der geheime Schatz mehr Last und Frust denn Befreiung.
An diesen Tagen verschließe ich den Notizblock wieder … und träume von New York.