Dass der Schreibende zuweilen etwas „anders“ lebt, erkennt er selbst oft nur im direkten Vergleich. Feiertage und ihre Begleiterscheinungen sind hierzu ein besonders auffälliges Kriterium.
Die Adventzeit ist angebrochen. In meinem Bekannten- und Freundeskreis macht sich gestresste Stimmung breit. Familienessen, Firmenfeiern, Einladungen, Besuche werden partnerschaftsgefährdend und wider besseres Wissen synchronisiert, geplant und erahnt. Geschenke müssen gekauft und ansprechend verpackt, Karten ausgesucht und geschrieben werden. Fleisch- und Süßigkeitenberge werden bestellt und gehortet, Traditionen mit abergläubischer Akribie eingehalten, als hinge das künftige Wohlergehen von Generationen davon ab. Gereizte, lästige Vorfreude schwankt zwischen pubertär-anarchistischer Ablehnung, resignierter Überforderung und narzisstischer Detailverliebtheit. Der Baum, die Gans, die Kugeln, die Lieder, die Geschenke, die Schleifen, die Karten, die Aufkleberchen auf den Umschlägen, die Geschenkanhänger, die Sitzordnung, die Termine, die Extrapfunde, das Einkaufen, die überfüllten Geschäfte, die Schlangen an den Supermarktkassen, das pflichtgemäße Keksebacken, die angestrebte Harmonie, das hühnerbatterieähnliche Zusammenhocken, der Erfolgsdruck, an welchem Tag bei wem welcher Kuchen … – und haben wir denn wirklich alles? Nervenaufreibendes, soweit der Advent reicht. Ganze Terminkalenderseiten werden je nach Temperament in allen Richtungen hektisch vollgekritzelt oder neurotisch gegliedert.
In meiner näheren Umgebung gibt es auch viele Verleugner. „Wir machen dieses Jahr gar nichts“ ist für gewöhnlich die psychologisch hilfreiche Umschreibung für: „Ich-habe-drei-Dosen-Plätzchen-gebacken-zwei-muss-ich-noch-hinkriegen-da-ist-aber-auch-das-Krippenspiel-der-Kinder-in-der-Schule-oje-meine-Schwiegermutter-kommt-und-bleibt-eine-ganze-Woche-hoffentlich-ist-die-Gans-grösser-als-letztes-Jahr-da-hat-sie-kaum-gereicht-und-Geschenke-für-Eva-Klaus-und-Peter-habe-ich-auch-noch-gar-nicht-das-Geschenkpapier-muss-ich-noch-besorgen-und-die-Karin-muss-ich-noch-unbedingt-vor-den-Feiertagen-auf-einen-Tee-einladen-und-eigentlich-bin-ich reif-für-die Wellness-Farm-aber-ich-bin-ja-so-tapfer-und-so-tough-und- verdränge-das-jetzt-alles-und-überhaupt-mache-ich-das-so-gern-für-meine-Lieben-und-wenn-alles-nichts-hilft-kann-ich-immer-noch-zusammenbrechen-hach-was-freue-ich-mich-das-wird-sooo-schön.“
Ja, alle freuen sich. Irgendwie. Klar, es ist viel Arbeit. Aber es ist schließlich Weihnachten. Also ist es auch besinnlich. Irgendwie eben.
Das Schreiberleben hat viele Nachteile. Es gibt keinen bezahlten Urlaub, keine Vermögenswirksamen Leistungen, es ist sozial unreif und prekär.
Aber in solchen Zeiten genieße ich es in vollen Zügen, das hart erkämpfte Vorrecht des Bohemiens auf Andersartigkeit ausleben zu können und zu dürfen.
Von mir werden keine bürgerlichen Werte, kein „normales Verhalten“ erwartet. Es gibt kaum eine Zeit des Jahres, in der ich mich so frei fühlen darf. Adventkaffees mit monatelang vernachlässigten Freunden gibt es nicht; ein Abend an einem ohnehin trüben Novembertag genügt, um Herr der Kartenpflicht zu werden – zugegeben: Schreiben ist mein Beruf, ich habe es da wohl etwas leichter. Die Deko ist nach wenigen Handgriffen erledigt – schließlich muss sie nur mir gefallen und erhebt keinen Anspruch auf repräsentative Darstellung.
Auch die Feiertage sind geruhsam. Es gibt keine ermüdenden Autofahrten, kein gemeinsames Musizieren unter dem Weihnachtbaum, keinen langen, zwanghaft in rot-grün-gold mit Rentierporzellan dekorierten Esstisch, kein Fünf-Gänge-Menü, keine Pflichteinladungen verhasster Verwandtschaft; der Weihnachtbaum misst gerade mal 60 cm und kommt alle Jahre wieder in Sekundenschnelle aus seinem Pappkarton; ich stehe nicht stundenlang bangend und schwitzend in der Küche: Das Essen liefert ein Delikatessenversand, und nach Entnahme aus der Dose und 20 Minuten im Ofen sind Rebhuhnkeulchen, Füllung, Sößchen und Trüffelravioli so fertig und schmackhaft wie nur möglich – nur für zwei und ganz ohne mein Zutun. Die Geschenke habe ich meist bereits im Sommer an einem einzigen Nachmittag gekauft und verpackt. Das Aufkleben der Adressen auf die Päckchen kann nicht als Arbeit bezeichnet werden, ein hilfreicher Bote bringt sie zur Post.
Ich bin frei. Ich beobachte die allgemeine Hektik, ich höre mir Klagen, Sorgen, Nöte, Probleme und Aufgabenlisten an und finde in diesen besonderen Wochen des Jahres dadurch zu einer Erholung, wie sie sonst nur der schönste Urlaub bietet. Auch wenn sich hin und wieder einige Pflichten einschleichen, sind sie sehr selten und halten sich in einem erträglichen und mit meiner Aufrichtigkeit zu vereinbaren Maß, sie sind nicht lästiger oder zeitraubender als das Ausfüllen einer Steuererklärung.
Die Erleichterung, die Freiheit, wird körperlich spürbar. Während andere in Planungen und Familienangelegenheiten vergehen, verbringe ich Zeit damit, dem Rotkehlchen bewusst zuzusehen, folge vom Schreibtisch aus der Bewegung des Windes und der Wolken, stehe nachts auf dem eiskalten Balkon und genieße den Anblick der Sterne am klaren Himmel.
Es ist eine erholsame Zeit. Pflichttermine für das kommende Jahr werden in den neuen Kalender eingetragen, die Buchhaltung wird in Ruhe zum Abschluss gebracht, die Aufträge können ohne Störung archiviert werden – entspanntes Warten auf den Frühling beginnt mit dem süßen Nichtstun. Das Telefon bleibt für gewöhnlich still – alle sind ja sooooo beschäftigt.
Der Advent ist eine warme Bresche in der Zeit, losgelöst. Für mich allein stressfrei.