Mythos Schreibblockade

In diesem Blog bin ich schon einige Male auf – nicht selten durchaus belustigende – Fragen eingegangen, die mir als Schreibender besonders oft gestellt wurden. Eines der beliebtesten Themen ist dabei die Schreibblockade.

Tatsächlich stehe ich diesem Begriff skeptisch gegenüber. Auch wenn viele und sogar berühmte Autoren sich einer bedient haben und bedienen, bin ich mir keineswegs sicher, ob es dieses Phänomen überhaupt gibt oder ob es nicht vielmehr eine überlieferte Legende ist, die Mitglieder der schreibenden Zunft nur zu gern anführen, weil sie als nun mal allgemein anerkanntes Allzweck- und Sammelwort schlicht eine ehrlichere Erklärung erspart.

Der Begriff „Schreibblockade” vermittelt das griffige Bild eines mechanischen Problems. Die Vorstellung geht dahin, dass etwas, das sich normalerweise bewegen sollte, es ganz einfach nicht tut und festsitzt.
Aus meiner Sicht ist diese Darstellung als Konstrukt wenig hilfreich. Ich finde, dass sie im Gegenteil von einer tiefen Unkenntnis dessen zeugt, was Schreiben eigentlich ist, und auf unerfreuliche Weise dazu beiträgt, das Missverständnis zu verankern.

Betrachtet man näher, was gemeinhin mit einer Schreibblockade beschrieben werden soll, so muss man feststellen, dass es sich dabei um sehr unterschiedliche Realitäten handeln kann, die wenig miteinander zu tun haben und die Tätigkeit des Schreibens an sich auch nur am Rande berühren.

1. Möglichkeit: Man hat etwas zu sagen, aber man weiß nicht, wie man es am besten tun soll.
2. Möglichkeit: Man findet zu einem Text keinen vernünftigen Einstieg, man weiß nicht, wie und womit man beginnen kann.
Das ist keine Ladehemmung, wie das trügerische Wort „Blockade” uns glauben lassen möchte, das ist entweder eine Schwierigkeit in der Beherrschung und Sortierung des Ideenflusses oder semantische Unbeholfenheit – mit anderen Worten: in beiden Fällen mangelnde Beherrschung des Handwerks.

3. Möglichkeit: Man findet nicht die richtigen Worte.
Da kann zwei Ursachen haben: entweder ebenfalls handwerkliche Unzulänglichkeiten oder mangelnde Geduld und ein Verkennen dessen, was Schreiben ist.
Schreiben ist ein Entstehungsprozess. Prozesse brauchen nun mal ihre Zeit. Sich darüber zu beklagen oder darin ein Problem zu sehen, ist in etwa so sinnvoll, als würde sich ein Bäcker in einer Krise wähnen, weil er warten muss, bis die Hefe aufgegangen ist, um sein Brot zu backen.

4. Möglichkeit: Man weiß nicht, was man schreiben könnte.
Wer nichts zu sagen hat, ist nicht blockiert, er hat nichts zu sagen und sollte sich damit abfinden, dass kein Text in ihm ist.

5. Möglichkeit: Man glaubt nicht mehr an das eigene Können, an die eigenen Ideen – oder an den Sinn des Schreibens überhaupt.
Diese Art der „Schreibblockade” betrifft ausschließlich Schriftsteller und hat mit dem Schreiben selbst im Grunde nichts zu tun. Sie kann das Ergebnis intellektueller Demut sein oder aber mit einer allgemeineren Sinn-, Glaubens- und Lebenskrise zusammenhängen. Sie ist ein psychologisches Problem, das meist nur dadurch aufgelöst wird, dass in der Tat die schriftstellerische Tätigkeit ganz eingestellt wird.

6. Möglichkeit: Der Wille zu schreiben ist da, aber man kann sich nicht aufraffen.
Zwei Ursachen können dazu führen: mangelnde Selbstdisziplin (in diesem Fall würde derjenige wahrscheinlich bei jeder Tätigkeit die Arbeit von sich schieben) oder einfach Erschöpfung.
Schreiben ist anstrengend. Es erfordert ein fast unbeschreibliches Maß an Konzentration. Dementsprechend erschöpft sich der Geist schneller als bei anderen kreativen Berufen. Kommen noch kleinere oder sogar größere, z. B. chronische gesundheitliche Probleme hinzu, muss sehr mit den Kräften hausgehalten werden. An manchen Tagen ist überhaupt kein Arbeiten möglich, weil der Körper es schlicht nicht mehr zulässt. Dieses Syndrom ist zwar bei Schreibenden besonders ausgeprägt und sozusagen berufstypisch, aber das Wort „Blockade” ist ganz und gar nicht geeignet, um es zu beschreiben: Hier ist nichts verkeilt, verkantet und unbeweglich, es fehlt lediglich Kraftstoff/Energie, um den Motor starten zu können, und es hilft im wörtlichsten Sinne des Wortes nur eins: Auftanken.

Ich finde den Begriff „Schreibblockade” daher irreführend, kontraproduktiv und ein wenig verlogen. Selbst in seine Facetten zerlegt hat mich das Phänomen übrigens nie betroffen: Ich habe genug Handwerk, um zu jeder Tages- und Nachtzeit aus dem Stand schreiben zu können; genug Geduld, um auf das richtige Wort in mir zu horchen, wenn es denn sein muss; genug Selbstdisziplin, um mich stets zum Arbeiten zu zwingen; genug Erfahrung, um den Verbrauch meiner Kräfte zu steuern. Und da ich nicht aus Überzeugung und Selbstwertgefühl schreibe, das eigene Schreiben und mich selbst nicht für wichtig halte und mir nie eingebildet habe, ich hätte etwas zu sagen, bleibt mir eine Sinnkrise erspart.
Für mich ist das Thema „Schreibblockade” in die Kategorie Yeti und Monster von Loch Ness anzusiedeln: Jeder redet darüber, aber keiner hat sie je gesehen.