Sie waren nicht die ersten gewesen, die nach und nach hatten erkennen müssen, dass ihre Arbeit keinen Sinn mehr hatte. Nach den fahrenden Lumpensammlern, Scherenschleifern und Regenschirmflickern waren auch die Schildermaler zum Opfer einer kurzlebigen und ökonomischen Welt geworden.
Geschichte aber wird nicht so schnell geschrieben, wie es zuweilen scheinen mag.
Die Wende war in den 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts gekommen. Computergestütztes Design und materialunabhängige Druckmöglichkeiten hatten ihr Handwerk in ein überflüssiges Relikt überholter Zeiten verwandelt. Perfekter, schneller und preiswerter waren die Alternativen, die ein seit dem Mittelalter bestehender Beruf zur unwirtschaftlichen Liebhaberei degradiert, wenn nicht gar für immer ausgelöscht hatte.
Sieb- und Foliendruck hatten leichtes Spiel gehabt;nbsp;– waren sie doch zunehmend erschwinglicher und zugänglicher geworden. A3-Geräte für das Home Office machten es erst recht einfach, eine Tätigkeit auszubooten, die von vornherein die schlechtesten Voraussetzungen gehabt hatte. Es ging um Kunst und Handschrift – zwei Dinge, die in der maschinellen Wirklichkeit der neuen Ära, die sogar an das vollständige Verschwinden des Papiers glauben wollte, keinen Platz mehr hatten. Rein profitorientiert und streng rationalisiert gab sich das Geschäftsleben, dynamisch-steril und gnadenlos effizient das kaufmännische Image.
Auch wenn dieser Niedergang die Schildermaler zweifellos existentiell mit voller Härte traf und in den Herzen jene Bitterkeit hinterließ, die für jeden unausweichlich mit der Erkenntnis einhergeht, er werde nicht mehr gebraucht und sein besonderes Können habe für die Gesellschaft, in der er lebt, keinen Wert mehr, war das Unglück auch ein Glücksfall.
Nachdem es sich gezwungenermaßen von allem praktischen Nutzen befreit hatte, entdeckte das Handwerk der schönen Buchstaben eine neue Dimension. Als nunmehr überflüssige Fertigkeit konnte es sich mit dem versöhnen, was es einst gewesen war: die ästhetische, graphisch-künstlerische Interpretation von Schrift, ein Bindeglied zwischen zweckfreier Kalligraphie und zweckorientiertem Druck.
Unter der Bezeichnung „Hand Lettering“ wurde es als Hobby beliebt, als „Chalk Art Typography“ entwickelte es sich vom flüchtigen Dekorationsgegenstand zum graphischen Element des Corporate Designs zurück. Bekannte Bekleidungs- und Sportausstattungsunternehmen haben unter vielen anderen zu den handgemalten Schriftzügen zurückgefunden.
Ob für das kleine Café um die Ecke oder für weltumspannende Konzerne – das gemalte Schild ist nicht mehr selbstverständlich, sondern eine Besonderheit, die man sich ganz bewusst gönnt und für die man sich gezielt entscheidet. So wurde aus dem Handwerk wieder Kunst, aus den gezeichneten Buchstaben wieder eine begehrte Kostbarkeit.
Die Schildermaler haben gesiegt.
TEXTDATEN:
Betrachtung einer zeitgenössichen Entwicklung.
Themenbereiche: Schriftkultur, Kunst und Unternehmen
Textart: Kolumne, Artikel
Textfarben: grau, schwarz, weiß