Das Land der sprechenden Züge

In Europa schweigen die Züge.
Es ist nicht so, dass sie das Sprechen verlernt hätten – vielmehr haben sie es nie wirklich beherrscht. Vielleicht liegt es daran, dass sie nie beachtet oder geliebt wurden, dass sie immer nur Werkzeug waren. Vielleicht sind sie zu schnell erwachsen geworden und haben ihre Kindheit und Jugend schlicht verpasst.
Sie waren nie ein Ort, an dem das Verweilen zum Selbstzweck werden kann, sondern nur eine Maschine auf dem lästigen Weg zwischen zwei Aufgaben, zwei Zielen, zwei Ereignissen, zwei Lebensbereichen. Opportun, effizient und zuverlässig mussten sie werden, sich vom Makel des Schmutzes und des Ekels befreien, den sie noch immer in sich tragen. Als routinierte verachtete Sklaven hatten sie zu dienen, und ihre stillose Notwendigkeit konnte ihnen nur verziehen werden, wenn sie den Preis größtmöglicher Unsichtbarkeit zu zahlen bereit waren. Nicht einmal der Prunk einiger berühmter Luxusexemplare, deren Namen heute noch die Erinnerung an alten Glanz wachzurufen versuchen, vermochte dies zu verhindern. Stumm, anonym, metallisch strahlend und lärmend, kraftvoll entmenschlicht stellten sie sich dem Wettbewerb und verschwanden vom ersten Tage an in die Eile ihres Nutzens. Ihr anfänglicher Stumpfsinn hielt der Hybris des Reisenden nicht stand, der vom nervösen Klappern ermüdet hektisch die Flucht an die frische Luft suchte.

In Japan hingegen sprechen die Züge, und ihre Worte hallen magisch in der Landschaft.
Dankbar, ein wenig verspielt und schüchtern zögernd zugleich nehmen die kleinen Bahnen, die fernab der Metropolen auf unzähligen Kilometern mitunter etwas holperig dahindackeln, den aufrichtigen Gruß wundersamer Bahnhöfe aus einer anderen Zeit entgegen, die erwartungsvoll und verträumt in einem skurril lebhaften und selbstbewussten Dasein ihren Weg säumen. Im gemäßigten, unaufdringlichen Rhythmus ihrer Räder erzählen sie von Geborgenheit und kleinen Abenteuern und geben eine Individualität preis, die von Wärme und Aufmerksamkeit, von Zurückhaltung und Gastfreundschaft, von Alltag und Handwerk, von Kunst und Tradition, von Beschaulichkeit und Exzentrik, von Einfachheit und Selbstverständlichkeit dichtet.
Der unverkrampfte Respekt und die Zuneigung, die sie erfahren, nehmen sie bescheiden als Verpflichtung an. Der Dialog, der so zwischen Landschaft, Orten, Mensch und Zug entsteht, ist vielseitig und von eindrucksvoller Balance.
Es sind leise Geschichten, unaufgeregt und charmant. Sie zeugen von surrealen Lebensentwürfen, die ohne sie unerzählt blieben, von Berufungen, die keine Bestätigung heischen, von der Kunst, in sich zu ruhen und nichts zu wollen als das, was man liebt.

Japans kleine Züge sind ein Stilmittel der besonderen Art, ein Bekenntnis zu einem authentischen und echten Leben jenseits von Maßstäben, Markt und Vergleichbarkeit. Ihre sanften Töne sind Sprache und Staunen, Gespräch und Bild – und immer Ausdruck perfekten Glücks. In ihrem unbeschwerten Übermut und ihrer heiteren Genügsamkeit sind sie die Wächter einer Welt, die um ihre Gefährdung noch nicht weiß.

TEXTDATEN:
Beispiel eines Textes zur Verwendung als Artikel, Text zu einer Fernsehdokumentation oder Einleitungstext zu einem Bildband.
Themenbereiche: Tourismus, Dokumentationen, TV, Verlage, Zeitschriften, Bildkommentar
Textart: Ortsporträt, Bildtext
Textfarben: blau, weiß