Mythos Moleskine®?

moleskine1 Eigentlich ist es eher unscheinbar – ganz in schwarz gekleidet mit seinem unspektakulären Gummibändchen. Ein Notizbuch wie viele andere, könnte man meinen. Und doch umgibt es die Aura des Besonderen – dank einer geschickten Werbekampagne, die im Bereich der Papierwaren ihresgleichen sucht und es zum Kultobjekt erhob.

Dass nicht einmal eindeutig feststeht, welche der Künstler und Intellektuellen, die mit der Geschichte des Moleskine® in Verbindung gebracht werden, ein solches Heft verwendet haben und welche auf eines der zahlreichen ähnlichen Blöckchen mit Gummizug zurückgegriffen haben, die seinerzeit in großen Stückzahlen vertrieben wurden, ist inzwischen kein Geheimnis mehr.

Eine gründliche Demontage, wie sie immer häufiger versucht wird, ist allerdings übertrieben und völlig unnötig.
Auch wenn die Geschichte, auf der das Marketingprojekt des heutigen Herstellers Modo & Modo beruht, ein recht künstliches und bei näherer Betrachtung wackeliges Konstrukt ist, und Moleskine® erst Anfang dieses Jahrhunderts als Marke entstand – es gab in französischen Schreibwarenläden in den vierziger und fünfziger Jahren wirklich Hefte und Carnets, die mit einem damals als wertvoll und besonders schön empfundenen Stoff bezogen waren und sich durch die hervorragende Qualität von Papier und Verarbeitung, die Strapazierfähigkeit des Einbands und eine praktische hintere Falttasche auszeichneten. Sie mussten aufgrund der Feinheit des Stoffes in Handarbeit hergestellt werden und wurden dementsprechend zu märchenhaft hohen Preisen angeboten, was zu ihrem Untergang führte. Sie wurden allerdings nicht Moleskine® genannt, sondern „cahiers en molesquine“ oder „carnets en molesquine“. Die Cahiers hatten ein Format von wahlweise 24 x 32 cm oder 32 x 40 cm, und das Papier im Inneren war jeweils 120 g-Zeichenpapier oder das, was wir heute als Fotokarton bezeichnen würden. Beide Modelle wurden oft für Collagen, Einklebungen, Stickmustersammlungen oder Herbarien verwendet. Die Carnets entsprachen in etwa der heutigen Größe B5, das Papier war für das Schreiben mit der Feder hervorragend geeignet, und sie dienten als Tagebuch, Geschäftsbuch oder Notizblock. Noch zwei Jahrzehnte später genügte das Wort „molesquine“ allein, um auf das Gesicht der „einfachen Leute“ ein verträumtes Lächeln zu zaubern. Manch einer schwärmte davon, ohne ein solches Heft je in der Hand gehabt oder gar gesehen zu haben.

Kein Wunder also, dass es dem kleinen italienischen Verlag mühelos gelang, aus der Nostalgie eine Legende aufzubauen, die ganz unreflektiert rezipiert wurde und ausgesprochen erfolgreich funktioniert. Nur zu gern will man daran glauben, dass hier ein Stück Vergangenheit, das unwiederbringlich verloren schien, wieder da ist. Auch wenn die heutigen Hefte kaum noch etwas mit den damaligen gemein haben, tut es ihrer Popularität keinen Abbruch. Ein Moleskine® zu besitzen, ist einfach schick – aus welchen Gründen auch immer.

Mittlerweile hat die Fangemeine weitweite Ausmaße angenommen. Es gibt neben der eigentlichen Internetpräsenz verschiedene Communitys, Blogs, Photosammlungen, Projekte aller Art. Um dem Rechnung zu tragen, wird die Produktpalette immer wieder erweitert. Es gibt Kalender, Do-it-yourself-Reiseführer, Skizzen- und Partiturblöcke und vieles mehr – was dem Mythos Moleskine® sicherlich eher abträglich ist. Moleskine® ist der Beweis, dass das kollektive Bewusstsein sich nach den intellektuellen Märchen sehnt.

Fakt ist: Das Papier des heutigen Moleskine® vermittelt ein angenehmes und erholsames Schreibgefühl, die Hefte sind praktisch und ästhetisch klassisch. Die Einheitlichkeit des Einbands ermöglicht die Nutzung über Jahre hinweg als Sammlung. Und das um das Produkt aufgebaute Marketing-Gerüst führt dazu, dass auch die junge Generation wieder zum Stift anstelle der Tastatur greift. Somit ist die Moleskinemania zweifelsohne eine der besten Erscheinungen, die Werbung und Snobismus gemeinsam zu Tage gebracht haben.