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Arbeitsphilosophie

Plädoyer für Demut, kulturellen Respekt und textliche Treue.

Ich vertrete die Auffassung, dass eine gute Übersetzung den Ausgangstext lückenlos wiedergeben muss und kein neuer, „verbesserter“ oder „angepasster“ Text sein darf. Der Zieltext sollte an denselben Stellen wie der Quelltext ggfs. dieselben stilistischen Charakteristika aufweisen. Ist also der dritte Satz im Original schlecht oder merkwürdig formuliert, ein Abschnitt langatmig oder umständlich, muss das auch im Zieltext der Fall sein. Schließlich sollte der Leser nicht erfahren, wie ein perfekter Text ausgesehen hätte, sondern wie der Text ursprünglich wirklich ist. Auch mit seinen Schwächen, wenn er welche hat. Es ist meine tiefste Überzeugung, dass es nicht die Arbeit des Übersetzers ist, einen Text gefällig werden zu lassen, der im Original schwierig und verschnörkelt oder schlichtweg schlecht geschrieben ist. Im Gegenteil. Auch der Ton des Textes muss erhalten bleiben. Wer den Zieltext liest, muss das gleiche Gefühl im Bauch und den gleichen Geschmack im Mund haben, als hätte er das Original gelesen. Der Übersetzer muss Inhalt, Duktus, Absicht, Feinheiten, Nuancen des Textes, Schwächen und Stärken des Autors perfekt und getreu wiedergeben.
Die Stimme des Übersetzers wiederum darf nicht zu hören sein. Wenn ein Übersetzer namens John Doe alle Texte eines berühmten zeitgenössischen amerikanischen Kriminalschriftstellers übersetzt, aber auch alle Texte eines großen Literaten, darf ein Leser, der zufällig beides liest, nicht erkennen, dass es sich um denselben Übersetzer handelt. Der Übersetzer muss zwar zu stilistischer Perfektion fähig sein, aber er muss sich selbst so hinter Text und Autor zurücknehmen, dass niemand ihn bemerkt. Er muss durchsichtig sein bzw. als Spiegel des Autors fungieren, nicht als seine Cover-Version. Einen Spiegel sieht man nicht als solchen, wenn man hineinschaut. Man sieht SICH darin. Ebenso versteckt ein Spiegel keine Falten, keine Pickel und keine Sommerbräune. So sollte eine gute Übersetzung sein. Sie sollte alles zeigen, auch das Unerfreuliche.
Übersetzer haben zudem eine wichtige kulturelle Aufgabe: Sie sollen Mentalitäten, Lokalkolorit, Philosophien und Kulturen in all ihren Facetten vermitteln. Vermitteln ist hier das wichtigste Wort. Nicht durch die eigene Kultur oder Sichtweise ersetzen. Es ist ihre Aufgabe, das Unverständliche zu erklären und in die Zielsprache hinüberzuführen – nicht als „unverständlich“ abzutun und eigenmächtig zu „korrigieren“ (welch Anmaßung!). Probleme im Sinne der interkulturellen Verständigung sollten und müssen angesprochen werden, jedoch nicht wegradiert. Sie sind Teil der menschlichen Kommunikation. Sie sind sogar das, was sie reizvoll, interessant und lebendig macht. Wenn wir nur lesen wollen, was wir verstehen, was wir bereits kennen, wenn wir das Fremde, das Andersartige, das Überraschende, das Neue, das Unbekannte, das Unverständliche nicht kennenlernen wollen – wozu dann noch nach außen blicken, wozu überhaupt noch übersetzen, wozu mit anderen kommunizieren?
Aus meiner Sicht ist Demut des Übersetzers erste Pflicht. Er kann, darf und soll über einen Text eine Meinung haben – sie ausleben und ihn nach seinen Vorstellungen verändern jedoch nicht. Das ist meine tiefe Überzeugung und so arbeite ich. Treu, schonungslos, selbstlos. Im Dienste des Originals und seines Autors. Denn wenn ich übersetze, geht es nicht um mich, sondern um ihn.