Paper matters – Warum Text Papier braucht

Das papierlose Büro … Dieser vermeintliche Traum der 90er Jahre polarisiert noch immer. Während einige bedauern, dass er nicht bis zur letzten Konsequenz verwirklicht wurde, und Papier mit unterschiedlicher Argumentation am liebsten aus allen Lebensbereichen verbannen würden, kehren manche einst Digitalbegeisterte nun reumütig zu analogen Kalendern oder Notizbüchern zurück – aus den ebenfalls vielfältigsten Gründen. Tatsächlich ist die Polemik überflüssig und kontraproduktiv, denn sie übersieht das Wesen des Papiers selbst.

 

Für und gegen Papier als Teil des Alltags spricht gleichermaßen viel und wenig. Papier wird vorgeworfen, eine schlechte ökologische Bilanz zu haben, weil zu seiner Herstellung viel Wasser verbraucht würde. Der Fußabdruck, den ein Smartphone oder ein Tablet in Fertigung, Stromverbrauch, Serverressourcen und wiederum deren Bereitstellung mit sich bringen, wird dabei gerne vergessen – von den einfachen Möglichkeiten einer mehrmaligen Verwendung durch Up- oder Recycling auf der einen Seite und dem unverhältnismäßigen Aufwand für die Sortierung und Entsorgung der Komponenten auf der anderen Seite wird ebenfalls selten und höchstens widerwillig geredet. Tatsächlich beträgt die Lebensdauer eines Buches nachweislich mehrere Jahrhunderte, die einer Datei in ihrem Plastik- und Metallgefängnis wäre in Hardware und Software eher in Monaten anzugeben.

Praktische Aspekte sind ein weiteres umstrittenes Feld. Bücher im Reisegepäck und als Wohnraumbelegungsfaktor werden gern mit der Handlichkeit eines eine komplette Bibliothek umfassenden Readers verglichen.
Eine Zeitschrift muss nach einem Sturz aus zwei Meter Höhe nur aufgehoben und nicht neu gekauft werden, während ein elektronisches Gerät einen solchen Vorfall in den wenigsten Fällen überlebt. Auf der einen Seite stehen in den beliebten Argumentationslisten gegen digitale Medien die Notwendigkeit und die Kosten für Stromzugang, funktionsfähige Leitungen und Datenträger, auf der anderen Seite eine beinahe unbegrenzte Nutzbarkeit von Papier – Wildnis, einsame Insel, Mondschein und Kerze inklusive. Briefe können über Jahrzehnte immer wieder gelesen werden, eMails sind vergänglicher. All dies stimmt.
Auch im Berufsalltag bleiben die Waagschalen in einer etwa horizontalen Linie, die jedoch in Kategorien von Stressvermeidung dem Papier einen leichten Vorzug geben. Querverweise und Stichwortsuche sind am Computer zweifelsohne schneller durchzuführen und ersparen stundenlanges Blättern durch Berge von Akten. Andererseits scheint es wesentlich schwieriger, eine Papiermappe samt Inhalt aus Versehen vollständig zu zerstören, als eine Datei durch einen zu schnellen Fingertipp unwiderruflich zu löschen.

Ist der Punkt geklärt, dass dieser Vergleich bestenfalls ausgeglichen ausgehen könnte und in Kategorien von Nachhaltigkeit und Lebensqualität letzten Endes wahrscheinlich doch Papier einen leichten Vorsprung aufweisen könnte, nimmt die Überlegung nach der Daseinsberechtigung von Papier eine andere Dimension an.
Zu oft wird übersehen, dass Papier in erster Linie Werkzeug des ästhetischen Ausdrucks und ästhetisches Element selbst ist.
Um dies zu begreifen, genügt es, sich ein wenig in anderen Bereichen umzusehen.
In Museen gehört es zur Aufgabe von Kunsthistorikern und Restauratoren, nuanciert zu erwägen und zu entscheiden, wie ein Bild eingerahmt, aufgehängt und beleuchtet werden soll. Es finden darüber Diskussionen, ja regelrechte Debatten statt, und diese Szenographie wird auch in Ausstellungsrezensionen und Kritiken von Galerien genau beurteilt und neben der Auswahl der Werke als Maßstab für die Qualität einer Schau bzw. der Arbeit eines Kurators herangezogen.
In erlesenen Restaurants wird nicht nur Wert auf Sauberkeit, Zutatenqualität und Zubereitung gelegt. Geschirr, Tischwäsche, Dekoration werden sorgfältig ausgewählt, weil sie untrennbar zum kulinarischen Erlebnis gehören.

Text geht es ähnlich.
Ohne Papier fehlt dem Text – und sei er noch so schön – der passende Rahmen. Haptik, Geruch, Optik gehören zur Textrezeption mit dazu und sagen viel sowohl über den Wert eines Textes als auch über die Ideale desjenigen, der ihn präsentiert. Papier ist als Inszenierung Teil der Textbotschaft und in dieser Hinsicht durch nichts zu ersetzen. Ohne Papier ist der Text Fastfood – eine legitime Wahl, die aber nicht jedem schmecken muss. Eher als um persönliche Vorlieben und Bedürfnisse geht es folglich um Werte und Prioritäten. Möchten wir die Informationen als Tablette oder Nährlösung zu uns nehmen, sind uns lediglich Inhalt und Daten wichtig, mag Papier in der Tat obsolet sein, wie es dieser Anschauung nach jede Kunst sein muss. Möchten wir sie als besonderen Moment und vollständiges, sinnliches Erlebnis genießen, ist es unverzichtbar.
Für das Papier gibt es also Anlass zur Hoffnung. Als kontingentes Material der textlichen Äußerung darf es in unserer Zeit zu einem Luxusgut werden, das denjenigen vorbehalten wird, die es zu schätzen und zu bewerten wissen. Diese Entwicklung ist bereits im Handel zu erkennen. Papierkompendien zeugen von einer wiederentdeckten Sinnhaftigkeit und einer erstaunlich lebendigen, erfreulich kundigen und differenzierten Nachfrage.

 

Gerade nun, da Einebnung vielerorts zum akzeptierten oder sogar empfohlenen gesellschaftlichen, geopolitischen und kommerziellen Modell wird, gewinnen Details des ästhetischen Ausdrucks, wie Papier es ist, deshalb an Bedeutung, weil nur sie allein als Garant einer letzten Individualität, Unabhängigkeit und Erhabenheit wahrgenommen werden. Die Ausnahme darf genossen werden – nicht mehr nur als Hobby und als Spleen, sondern als aufrichtige, stille Leidenschaft für das, was wirklich zählt. Paper matters.