Papier & Stift: positive Diskriminierung

In Blogs und Magazinen sind in letzter Zeit Artikel ausgesprochen beliebt, die sich mit dem „Revival“ von analogen Schreibwaren beschäftigen, und auch Bücher zu diesem Thema scheinen stark in Mode zu kommen.
Dass die Attraktivität von Stift und Papier – ob sie nun als ungebrochen oder wiederentdeckt dargestellt wird – verschiedentlich immer häufiger unterstrichen wird, könnte ein Grund zur Freude sein, sollte es aber nicht.

Begriffe wie „Revival“, „Nostalgie“, „Spleen“, „Sehnsucht“ mögen publikumswirksam sein, sie implizieren aber eine Verniedlichung, die eigentlich in mehrfacher Hinsicht beleidigend ist: Sie degradieren Papier und Handschrift zu einem anachronistischen Kuriosum, einem obsoleten Gegenstand aus vergessenen Zeiten, einem Sammelobjekt für seltsame Geeks, einem verstaubten Museumsstück. Schlimmer noch, sie umgeben sie mit einem Hauch von Snobismus und elitärem Flair und verleugnen damit die Legitimität ihres Platzes in einem ganz gewöhnlichen Alltag, machen sie zum Ausnahmefall und Außenseiter, verschieben sie aus der Normalität in eine künstlich verschrullte, exaltierte Extravaganz.

Die psychologisch-soziologische Analyse, der analoge Schreibmaterialien bei dieser Gelegenheit unterzogen werden, ist, auch wenn sie mitunter von den Schreibwarenbegeisterten selbst stammt, ein klassischer Fall von positiver Diskriminierung. In ihrem Bedürfnis, das Interesse für Papier, Stift und deren Gebrauch begründen zu müssen, unterstellt sie schlicht eine Abnormität, die streng genommen die Absonderung erst schafft, und erfindet aus dem Nichts, aus einer Selbstverständlichkeit, ein untersuchungswürdiges Phänomen. Die so erzeugte Aufmerksamkeit wird unvermeidlich überspitzt und impliziert, dass mit den überzeugten Nutzern etwas nicht stimme: Es können Ewiggestrige, Anpassungsunfähige, Unbelehrbare, Uneinsichtige, Technikverweigerer, Protestler, Fortschrittsfeinde, Entwicklungsgestörte sein – von kauzig weltfremd bis skurril exzentrisch … jedenfalls handeln sie wider die Norm und wider die Mehrheit.
Die geschmeichelten Fans wähnen sich ob der Beachtung gelobt und bestätigt und fühlen sich zu langen Kommentarschlachten gedrängt, die sie nicht nötig haben sollten. In ausschweifenden Tiraden lassen sie sich zu Rechtfertigungen herab, und eine ursprünglich oft neutrale, spontane, rein praktische Präferenz ohne jegliche ideologische Konnotation verkommt zu einer streitfähigen Prinzipienreiterei, ja zu ausgewachsenen Glaubenskriegen, die das Image des Außenseitertums leider nur noch mehr verstärken.

Papier und Stift haben solche Plädoyers nicht verdient und brauchen sie auch nicht. Sie sind das Werkzeug der leisen Töne und sollten es bleiben. Wenn Liebhaber und Kritiker sie gleichermaßen als Besonderheit betrachten, verliert ihre unaufgeregte Normalität und Natürlichkeit jede Glaubwürdigkeit. Sie werden zu einem identitätsstiftenden Hobby herabgesetzt, und das Interesse, das ihnen zuteilwird, besiegelt zugleich das Ende ihres Daseins als vollwertige, ernstzunehmende Werkzeuge, macht sie zu Aliens im Zoo.