Es ist schon seltsam: Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, verbinden sich meine Erinnerungen unweigerlich mit Papier, Tinte und Schrift. Ich sehe noch vor mir, wie sich die Seitenecken der Schulhefte unter dem zu starken Druck des Kugelschreibers widerspenstig zusammenrollen. Ich rieche noch den Duft frisch angespitzter Buntstifte. Ich höre noch das leicht entnervte Kichern einer ganzen Klasse, wenn das hektische Scharren meines Füllers wieder einmal bis in die hintersten Reihen zu hören war.
Unvergleichlich aber bleibt ein Geruch, dem ich lange nachgetrauert habe.
In der Ersten Klasse war zu meiner Zeit der Gebrauch von Stahlfedern Pflicht. Erst ein Jahr später wurde diese vermeintlich unzumutbare Art des Schreibenlernens als nicht mehr zeitgemäß verbannt, und eine von vielen Schülern begrüßte Reform schrieb vor, dass in Grundschulen künftig der Kugelschreiber zu herrschen hatte, bis sie von der nächsten abgelöst wurde und ab der 5. Klasse alle einen Füllfederhalter zu besitzen hatten. Diese kratzenden, etwas rostigen Dinger und die fleckigen Tücher, mit denen sie abgewischt wurden, habe ich nicht vermisst. Ein wenig Wehmut aber spürte ich beim Anblick der in den kleinen Tischen eingelassenen Porzellannäpfchen, die nunmehr auf ewig leer, verlassen und nutzlos bleiben sollten. Hatte ich die ständig verschmutzten Finger und den ungleichmäßigen Tintenfluss der alten Federn gehasst, den ich zu beherrschen nie in der Lage war und der mir ein tägliches Ärgernis war, so hatte ich umso mehr den Duft der Tinte geliebt, die jeden Morgen, nur wenige Minuten, bevor wir den Klassenraum betraten, mit einer uralten Messingkanne, die den Rest des Tages ihr Dasein auf der Fensterbank neben einem halb vertrockneten Weihnachtskaktus fristete, in die kalten weißen Töpfchen eingegossen wurde. Er füllte die ganze Schule – frisch, eisig, beißend und vertraut. Jahre später hing er noch in der Luft, als würde das alte Holz der Tische ihn noch ausströmen.
Die Zeit verging, und ich hatte nicht erwartet, ihn jemals wieder zu erleben – schließlich haben heutige Tinten andere Zusammensetzungen -, bis ich zufällig Noodler’s North African Violet entdeckte.
Als ich das Gläschen öffnete, entfloh eine ganze Bäckerei voller Proust’scher Madeleines, die mich zurück zu den knisternden Kladden brachte, zurück zu dem ungeduldigen Ticken der Kreide auf der damals wirklich schwarzen Tafel, zurück zu dem kreischenden Tumult des Pausenhofs und seinen schützenden Platanen, zurück zu der knarrenden Tür des Materialschranks, zurück zu den weichen rosafarbenen Löschblättern …
Die Farbe der Tinte stimmt übrigens nicht mit der von damals überein – hier kommt Herbins Stiefmütterchenviolett der Sache bedeutend näher. Aber ihr Duft schenkte mir eine magische Zeitreise.