Warum die Handschrift trainiert werden muss

Die eigene Handschrift fördern – Teil I

Im Laufe unseres Lebens verändert sich unsere Handschrift immer wieder und spiegelt auf diese Weise Erfahrungen, Erlebnisse, Gemütszustände, den körperlichen Alterungsprozess und – glaubt man zumindest der Graphologie – möglicherweise auch Charaktereigenschaften wider. Sie wird zwischen den ersten Schreibübungen in der Grundschule und den Zeilen, die wir im hohen Alter schreiben, erosionsartig geformt und gefestigt. Wird sie nicht benutzt – etwa wenn das Interesse für das Handschriftliche verloren geht oder, wie es in unserer Zeit naturgemäß immer häufiger der Fall ist, wenn immer mehr auch für private Notizen auf Tastaturen und Touchscreens zurückgegriffen wird –, verkümmert sie. Sie wird hastig und linkisch, schließlich wird sie als gänzlich fremd empfunden. Nicht selten klagen ältere Menschen darüber, dass ihnen die eigene Handschrift nicht mehr gefällt, oder dass sie den Eindruck haben, sie hätten das Schreiben regelrecht verlernt.

In der Tat besteht die Handschrift bekanntlich aus einer Reihe sehr präziser feinmotorischer Faktoren und Abläufe. Werden diese nicht mehr ausreichend geübt, „vergisst“ das Gehirn die entsprechenden Prozesse – ähnlich wie Muskeln bei mangelndem Training an Leistungsfähigkeit einbüßen.
Soll die Handschrift also sauber und natürlich wirken, darf sie nicht in allzu großem Maße vernachlässigt werden. Kriterien und Ratschläge, die sich auf körperliche Fitness und Sport anwenden lassen, haben auch hier durchaus Gültigkeit: Regelmäßigkeit, progressive Steigerung, Ausdauer und Abwechslung sind hier wie dort die Schlüssel zum Erfolg.

Damit die Handschrift sicher und selbstverständlich bleibt, sollte man sie häufig trainieren, vorzugsweise jeden Tag. Dabei ist es wichtig, sich nicht auf den sprichwörtlichen Einkaufszettel zu beschränken. Einige vollständige Zeilen und Sätze sind schon nötig, um einen normalen Schreibfluss entstehen zu lassen.

Wenn einem zum Trainieren kein eigener Text einfällt, weder Tagebucheinträge noch Briefe regelmäßig auf dem Programm stehen, ist das Abschreiben ein hilfreicher Weg. Geeignet sind alle Texte mit Zeilen normaler Länge. Von Gedichten, die als Gegenstand kalligraphischer Werke durchaus gern verwendet werden, ist hier in der ersten Phase daher abzuraten. Begonnen werden kann mit einem einzelnen Abschnitt aus einem Roman, einem kurzen Zeitungsartikel oder ähnlich überschaubaren Texten. Mit mehr Übung können dann schrittweise ganze Seiten oder sogar mehrere Seiten am Stück in Angriff genommen werden.
Dabei ist es wichtig, sich ausreichend Zeit zu nehmen und auf eine angemessene Schreibposition zu achten, die ein entspanntes, ja genussvolles Arbeiten ermöglicht.

Um wieder ein Gefühl für die eigene Handschrift zu bekommen, ist es zudem überaus hilfreich, ab und zu das Schreibgerät zu wechseln und einige Seiten mit einem Bleistift, einem Füller oder einem Kugelschreiber zu beschreiben. Das Alternieren zwischen Utensilien unterschiedlicher Größe, Dicke und unterschiedlichen Gewichts ist nicht nur subjektiv angenehmer, es verhilft auch zu neuen Erkenntnissen über die Merkmale der eigenen Handschrift, die natürliche Schreibgeschwindigkeit und die Vorlieben, die später gepflegt werden können. Auch das Aussuchen besonderer Papiere oder Tinten kann eine zusätzliche Motivation bieten.
Liebe zum Detail sollte dabei nicht unterschätzt werden. Wer sich bewusst mit der Formgebung der einzelnen Buchstaben, aber auch mit der gesamten optischen Gestaltung des Abschnitts oder der Seite auseinandersetzt, kann das Handschreiben konkreter und sinnlicher erleben. Wie beim Ballett-Training auch müssen beim Schreiben die Bewegung und ihr Ergebnis im Einzelnen erspürt werden.

Ganz gleich, ob die Schreibübungen auf losen Blättern oder in Heften und Notizbüchern stattfinden, ist es auf jeden Fall sinnvoll, die einzelnen Versuche auf der Rückseite zu datieren und einige Zeit aufzubewahren. Dies dient nicht nur der Selbstkontrolle, sondern lädt auch zur reflektierten Wahrnehmung des Schreibvergnügens ein.