Auf die Perspektive kommt es an

Die eigene Handschrift fördern – Teil VI

Viele Menschen haben von der eigenen Handschrift keine besonders hohe Meinung. Sie erleben sie als unzulänglich, schlecht lesbar, unschön. Sie ist ihnen peinlich, sie werden ungern darauf angesprochen und sind nicht der Ansicht, dass ein von ihnen geschriebener Text irgendeinen wie auch immer gearteten ästhetischen Wert haben könnte.

Dass der Schrift schon von Schulzeiten an Kategorien wie Deutlichkeit, Ordentlichkeit und Regelmäßigkeit zugeordnet werden, erweist sich als schlechter Dienst – wird sie doch in eine rein kommunikative, funktionale Ebene gerückt und verliert so jede Verbindung zu einer globaleren, rein ästhetischen Betrachtungsweise.

Um schön zu sein, muss die Schrift keinen Normen oder Vorschriften entsprechen. Ein Paneel aus Text kann durchaus als künstlerisch relevant erlebt werden, auch wenn der Text aus der Nähe betrachtet absolut unlesbar ist. Schrift ist immer ein Dekorationsobjekt, auch wenn sie den „Regeln“ und Gepflogenheiten nicht entspricht. Hieroglyphen oder asiatische Schriften zum Beispiel werden von uns immer als ästhetisch empfunden, auch wenn wir nicht beurteilen können, ob der Schreiber wirklich nach den Maßstäben seiner Kultur eine „schöne“ gepflegte Handschrift hatte. Was uns etwa an mittelalterlichen Handschriften reizt, ist nicht der eigentliche Text, sondern die grundsätzliche Schönheit, die von ihnen ausgeht. Ebenso werden Schriftabdrücke auf Löschpapierblättern zum Beispiel spontan als schön bewertet.

Kann man der eigenen Handschrift nichts Positives abgewinnen, kann es hilfreich sein, die Perspektive zu wechseln und eine geschriebene Seite zum Beispiel eingerahmt und aus größerer Entfernung zu betrachten. So werden vermeintliche Makel, „Fehler“ und Unregelmäßigkeiten schnell relativiert, und man findet bald einen neuen, versöhnlichen Zugang zu der eigenen Handschrift.