Die Schönheit vergangener Schriften

Schriften aus vergangenen Zeiten begegnete ich zum ersten Mal bewusst in der Grundschule bei einem Klassenausflug zu einem kleinen örtlichen erzbischöflichen Museum, das neben anderen Dokumenten die Urkunde zur Gründung einer alten Abtei, in deren Mauern die Reliquien des Schutzpatrons der Stadt aufbewahrt wurden, erstmals ausstellte. Von der Abtei waren bereits seit Jahrhunderten nur noch die Katakomben übrig, die Christen einst als Zufluchtsort gedient hatten, aber die Worte auf dem Pergament zeugten noch von dieser Zeit und verliehen ihr eine greifbare Realität. Weitere Exponate erzählten von mittelalterlichen Hoheitskämpfen, die die Stadt zwischen Bistum und Grafschaft gespaltet hatten. Die Geschichte war mir bekannt, aber diese perfekten Handschriften übten auf mich eine Anziehung aus, die ich mit meinen 8 Jahren nicht begründen konnte. Dies war der Augenblick, in dem ich begann, mich für Geschichte und Archäologie zu interessieren und Museen als Ort des Genusses zu erfahren.

Ein weiterer Museumsbesuch in der 5. Klasse zementierte dieses Gefühl, und wieder einmal war die Schrift der Grund dazu. Eigentlich wollte uns der Geschichtslehrer an einem praktischen Beispiel vor allem erklären, was eine Bulle sei und welche Implikationen eine solche Urkunde mit sich bringen könne, aber ich gebe zu, dass ich – und das obwohl Geschichte eines meiner Lieblingsfächer war – an diesem Tag kaum zuhörte. Ich war von der Schönheit dieser Schrift auf dem Pergament so verzaubert, dass alles andere im Raum verschwand. Diesen alten Text zu sehen, ihn durch das Glas zu entziffern, war so unendlich anrührend und ich spürte deutlich, dass sich in dieser Vitrine etwas Kostbares, auch jenseits der historischen Bedeutung Unersetzliches befand, das mir Ehrfurcht, Bewunderung und Liebe zugleich abnötigte.

Einige Jahre später wurde meinem Großvater, der zeit seines Lebens selbständiger Buchhalter und Buchprüfer gewesen war und als Solo-Selbständiger – auch wenn der Begriff damals noch nicht erfunden war – in langen Nachtschichten für eine Reihe von Anwälten, Ärzten und Handwerkern die Bücher geführt hatte, eine Festanstellung bei einem großen Gemüse-Großhandelskonzern angeboten, die er ob des Stresses des Selbständigenlebens, des zuweilen kapriziösen Verhaltens seiner Kunden, seiner schwindenden Gesundheit und nicht zuletzt der Aussicht auf die Vorteile des Status als Leitender Angestellter und die damit verbundene sichere Rente nur allzu gern annahm.
Als er sein Büro ausräumte, entdeckte ich zum ersten Mal die perfekten, mit Stahlfeder in violetter Tinte sorgsamst ausgefüllten Spalten der Kassenbücher, Journale, Kontobücher und wie diese ganzen riesigen Buchhaltungsfolianten auch immer heißen mochten, von denen ich nicht das Geringste verstand, die mich aber durch die Gleichmäßigkeit, Perfektion und Schönheit der eng geschriebenen Wörter und Zahlen faszinierten.
Als ich selbst ein Jahrzehnt später als Studentin während der Sommerferien in einem Schreibwarengeschäft arbeitete, das solche Bücher verkaufte, zogen sie mich weiterhin magisch an, weil ich vor meinem inneren Auge die Zeilen und Kolonnen in der makellosen Handschrift meines Großvaters vor mir sah und wusste, wie zauberhaft die vollen Seiten eines Tages aussehen würden. Der Inhalt hätte mich tatsächlich zu Tode gelangweilt oder angewidert, aber seiner Schönheit und der Vorstellung, wie die Tinte im Laufe der Zeit von der ersten bis zur letzten Seite verblassen und in dieser Veränderung von Vergangenheit und Geschichte berichten würde, konnte ich mich nicht entziehen.

Jahre später forschte ich zu wissenschaftlichen Zwecken in Archiven und entdeckte die vielfältigsten Dokumente: Geburts-, Tauf- und Firmenregister, Kirchenbücher, Gildengründungsurkunden und Inventarlisten kunsthandwerklicher Betriebe … Allen gemein waren die vorbildlichen Handschriften, die die geistlichen und säkularen Schreiber, Kanzleileiter, Vorsteher und sonstigen mit der Führung solcher Listen und Protokolle betrauten Personen hinterlassen hatten.

Ende der 1980er-Jahre schließlich hatte ich die Gelegenheit, das Tübinger Stift zu besichtigen. Der Mönch, der sich unserer „Touristen“-Gruppe angenommen hatte, hatte wohl bemerkt, wenn auch ganz ohne mein Zutun, wie sehr ich mich für die Manuskripte interessierte. Am Ende der Führung, nachdem er sich von unserem kleinen bunten Haufen verabschiedet hatte und sich alle in Richtung Tür begaben, holte er mich ein, nahm mich beiseite (ich dachte schon ganz erschrocken, ich hätte unwissentlich etwas Falsches getan) und sprach mich an. Ihm sei aufgefallen, wie sehr ich die alten Inkunabeln bewundert hätte, er wolle mir nun gern etwas ganz anderes zeigen, das ich sicher zu schätzen wissen würde. Verdutzt folgte ich ihm in einen relativ kleinen Raum, der nicht Teil der Führung gewesen war. Ein junger Mann in einfacherer Mönchskluft, der ein Novize gewesen sein mag, trug auf Geheiß seines älteren Kollegen mit religiöser Ehrfurcht ein großes, dickes und schweres, in Leder gebundenes Buch herein, das er vorsichtig auf einen gepolsterten und mit Brokat bezogenen Ständer legte und öffnete. Die Seite, auf die ich nun blickte, stand in der Qualität der Handschrift, der Initialen und Buchmalereien dem Stundenbuch des Herzogs von Berry in nichts nach, und mir stockte der Atem. Ich tat alles, um nicht zu zeigen, dass ich so überwältigt war, dass mir die Tränen kamen und ich dagegen ankämpfen musste. Etwas so Schönes zu sehen, war ein unglaubliches Geschenk und zugleich irreal. Mir wurden Baumwollhandschuhe gereicht und es wurde mir angeboten, die Seiten umzublättern, aber ich brachte diesen Mut nicht auf und bat den alten Mönch, dies für mich zu tun. Er erklärte mir geduldig jede Illustration, machte mich anekdotisch auf einen Fehler des Kopisten und die geschickte Korrektur und Kaschierung aufmerksam, übersetzte für mich einige Passagen. Als er nach dem, was mir wie Sekunden vorkam und von mir aus noch Stunden hätte so weitergehen können, verkündete, er müsse nun zurück, waren zwanzig Minuten vergangen. Nun nahm ich schließlich meinen ganzen Mut zusammen und berührte sozusagen zum Abschied mit der behandschuhten Hand die alte Seite.
Als ich mich wieder in der eisigen Februarluft wiederfand und feststellte, dass ich den Anschluss zu meiner Gruppe längst verloren hatte, fühlte es sich so an, als würde ich aus einem Traum aufwachen. Diese Handschrift aus unmittelbarer Nähe sehen, kurz berühren zu dürfen, gehört bis heute zu den anrührendsten Erlebnissen meines Lebens.

Diese Faszination hat niemals nachgelassen – und vermutlich ist diese unerklärliche Schönheit vergangener Schriften, auch wenn ich es nicht mit Sicherheit sagen kann, einer der Gründe, weshalb ich mich lange mit Geschichte und Kulturgeschichte auseinandersetzte, auch wenn ich mich längst für den Text und die Literatur entschieden hatte. Und es ist sicherlich kein Zufall, wenn mein Briefpapier, meine Visitenkarten, meine Websites und Veröffentlichungen Fonts verwenden, die möglicherweise als „schlecht lesbar“ gelten und dem heutigen Geist digitaler Schlichtheit, Zugänglichkeit und Plakativität widersprechen, aber an die unerreichte Ästhetik alter Druckarbeiten aus Mittelalter, Renaissance und Barock erinnern.