Réglure Seyès – Lineatur für eine ganze Nation

seyes3Von der ersten Klasse an kennt sie jeder Schüler. Ganz gleich ob unter dem Namen „rayures Seyès“ oder auch noch als „grands carreaux“ – die „réglure Seyès“ ist in Frankreich allgegenwärtig und die meistverkaufte Lineatur.

Ihr Siegeszug beginnt im ausklingenden 19. Jahrhundert und steht zunächst in unmittelbarem Zusammenhang mit der 1882 eingeführten Schulpflicht und den neuen, hiermit verbundenen Anforderungen an Schüler und Lehrer. Eines der zentralen Ziele der Bildungspolitik ist von nun an die Vermittlung optimaler und gewissermaßen normierter schriftgrafischer Fertigkeiten an eine explosionsartig gewachsene Anzahl von Schülern. Die Schrift soll bestimmte, als typisch französisch empfundene Proportionen, Über- und Unterlängen aufweisen. Die Pflege der Handschrift, ja der Schönschrift, entspricht nicht nur den in dieser Zeit allgemeingültigen pädagogischen Vorstellungen von Disziplin und Ordnung, sie gehört auch zum Instrumentarium der Nationalpolitik und der Bürgererziehung – demonstriert sie doch bis hin zum Alphabet die Einzigartigkeit der französischen Kultur und die Festigkeit und Überlegenheit des französischen Bildungskanons.
Werkzeug dieser Bestrebungen wird das von dem Papierwarenhändler Jean-Alexandre Seyès entwickelte und 1892 beim Gericht zu Pontoise als Muster eingetragene Papier.
Für die Lehrkräfte bedeutet diese Neuerung in erster Linie eine enorme Arbeitserleichterung. In Klassen von nunmehr über 50 Schülern ist es nicht mehr möglich, das Erlernen des Schreibens einzeln zu kontrollieren und durch Führen der Hand zu steuern, wie es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch üblich war. Die Réglure Seyès bietet eine Vielzahl von Orientierungspunkten in horizontaler und vertikaler Richtung und ermöglicht es so, vom Lehrerpult aus für alle verständliche und eindeutige Anweisungen zu Längen und Größen zu geben. Für die Grundschulen stehen Wandtafel-Klappflügel mit dieser Lineatur zur Verfügung, die Vorschreiben und Nachahmung vereinfachen.

Aus den praktischen, bildungspolitischen und nationalistischen Erwägungen entwickelte sich aber bald und ganz ohne Zutun gesetzlicher Vorschriften, die in der Tat bis heute noch Bestand haben, eine ungewöhnliche Liebes- und Erfolgsgeschichte, deren Ende nicht abzusehen ist.
Die französische Lineatur ist längst nicht mehr nur eine Lernhilfe für ABC-Schützen. Vom Gymnasium bis zur Universität, aber auch mitunter im Erwachsenenalter ist sie die beliebteste und meistverwendete Lineatur – lediglich den Bereich der Geschäftskorrespondenz hat sie nicht erobert. Diese Popularität wächst sogar weiterhin stetig: Notizblock-Hersteller wie Rhodia, die noch vor 25 Jahren nur Blankoblöcke mit beiliegendem Linienblatt oder karierte Collegeblöcke anboten, haben inzwischen ein beachtliches Sortiment an „Grands carreaux“-Produkten.

Mit dem Zusammenwachsen Europas hat die Réglure Seyès nach und nach auch in andere Länder Einzug gehalten – wenn auch in bescheidenem Maße – und wurde zum Beispiel Mitte der 80er Jahre in Deutschland bei Studenten und Akademikern kurzzeitig zum trendigen Accessoire. Mittlerweile bieten auch New Yorker Geschäfte etliche Hefte, Blöcke und Ringbucheinlagen mit „French Ruling“ an, die insbesondere bei Liebhabern und Sammlern exklusiver Schreibwaren reißenden Absatz finden.