Es war ein seltsamer Morgen. Die frische, klare Luft, die durch die weit geöffneten Fenster ungehindert hereinströmte, hatte auf einmal jenen Duft, der einen heißen Tag verspricht, wenn der Wind kühl, leicht und lebhaft ist und voller Tau scheint. Es war genau jener grüne Duft aus Schatten und Gras. Ich dachte darüber nach, wann ich ihn das letzte Mal gerochen hatte. Es war 27 Jahre her – und ich konnte nicht glauben, dass es ihn noch gab. Wie konnte es sein, dass er so authentisch sanft und morgendlich war? Es war nicht gerade Prousts Madeleine – auch wenn ich kurz darauf in der Tat unwillkürlich daran denken musste –, aber es war verblüffend unwirklich, und vertraut genug, um so etwas wie gerührte Euphorie und ein unvergleichliches Lebensgefühl aufkommen zu lassen. Es war merkwürdig. Belohnend. Überschwänglich. Übermütig. Entwaffnend. Fragil und kraftvoll. Die Zweige, die Sonne und der Wind spielten miteinander am Zaun, aber ich spürte nur diesen Duft, diese überwältigend glückliche Frische. Die seit langem nicht mehr gelebte, wunderbare Leichtigkeit des Seins.
Für die Amseln war die Zeit des Singens längst vorbei. In der noch ungestörten Stille waren sie nun damit beschäftigt, saftige Würmer aus dem feuchten Grün zu ziehen. In den mittleren Ästen der zu groß gewachsenen Forsythie war ein leichtes, kratzendes Hüpfen zu hören. Eine kleine Meise näherte sich scheinbar unbeteiligt und unschuldig frech. Als sie merkte, dass ich sie entdeckt hatte, überlegte sie sich zunächst doch einen Umweg zurück nach oben, neigte den Kopf fragend zur Seite und begann mit dem, was wohl ihre Morgentoilette sein mochte. Das Objekt ihrer Begierde, die kleine flache Wasserschüssel auf der Terrasse, war letztlich doch zu verlockend, und sie beschloss vorwitzig, zu ignorieren, dass ich ihr zusah.
Die Luft wurde allmählich lau, der Schatten am Zaun wich zurück. Ich wartete noch, bis die kleine Meise das Wasser verließ und davon flog, und schloss die Fenster.
(Erstveröffentlichung 9. Juli 2009)