Es war einer jener typischen Abende mit ihr. Draußen war es bitterkalt, tiefe Nacht, dunkler als gewöhnlich, so schien es mir, und sehr still. Sie ist 28 Jahre älter als ich, aber das hat nie eine Rolle gespielt. Wir sind Freundinnen. Solange ich zurückdenken kann. Es gab Apfelsaft und Ziegenkäse. Wir redeten. Es ist seltsam: Wir, die wir ja sonst wenig von uns erzählen, bringen immer die andere dazu, das zu sagen, was sonst in unseren Gedanken verborgen bleibt. Und wir bringen einander dazu, nachzudenken, zu formulieren, zu ergründen. Wir reden über Politik, Literatur, Philosophie, Wissenschaft, Männer, Lebensmittelqualität. Über alles. Sie ist neugierig, unkonventionell, direkt, unvergleichlich weltoffen. „Ein wenig Buddhistin“, sagt sie von sich selbst, „aber nur ein wenig“. Sie ist die Art Mensch, bei dem man sich frei fühlt. Unbeurteilt und akzeptiert. Wir sprachen von unwirklichen Dingen, die wir beide machen möchten, von unseren Wünschen, von unseren Sehnsüchten, von unseren Träumen. Von Reiseträumen, von Lebensträumen. Verrückte Sätze von verrückten Plänen, von denen wir genau wissen, dass sie Träume bleiben werden. Ich weiss nicht mehr, wie sie mich dazu brachte … Jedenfalls sagte ich, ich würde gern ein Jahr in New York leben, um dort ein Buch zu schreiben. Es war einfach nur so gesagt. Ich meinte es so. Und sie sah mich interessiert an. Nicht spöttisch, obgleich ich es ihr erlaubt und gegönnt hätte. Teilnehmend. Aufrichtig aufmerksam. Und sie fragte ernst:
„Und wieso muss man gerade nach New York, um ein Buch zu schreiben?“
Solche Fragen kann nur sie stellen. Sie ist so. Sie nimmt erst hin, wenn sie weiß, warum.
Ich begann, ihr zu antworten, und merkte zugleich, wie viele Klischees über meine Lippen kamen. Ich hörte mich selbst Begriffe von einer anonymen und gleichgültigen, harten und aufnahmebereiten Stadt sagen, von Vielfalt und Kompromisslosigkeit, von Freiheit und Enge, von Kälte und Menschen. Dass nichts als Reiseführergeplänkel von „Facettenreichtum“ dabei herauskam, ärgerte mich. Es war kindisch und kindlich. Aber letztlich war es nicht falsch.
Was wir brauchen, wenn wir schreiben, sind Wirklichkeiten, wie sie sein könnten. Wie sie sein sollten. Wie wir möchten, dass sie sind. Wie wir sie uns mit aller Kraft herbeisehnen.
Die abgedroschenen Mythen von New York, das, was wir von dieser Stadt zu glauben wissen, noch bevor wir sie je besucht haben, sind nicht so wichtig wie das, was sie in uns hervorrufen. Sie sind inspirierend, beflügelnd. Sie sind Hoffnung. Sie schaffen in uns eine Energie, die uns erst zu Schreibenden macht. Ob die Verheißung den Tatsachen entspricht, ob Bücher, Kinoerfolge oder selbst seriöse Dokumentarfilme ein getreues Bild wiedergeben, ist nicht nur nebensächlich. Es ist eine irrelevante, kontraproduktive, ja zerstörerische Überlegung.
Träume von New York, von hartem Leben, von einem nicht zu begreifenden Monstrum, von zweischneidiger Freiheit, von kreativen Räumen und endlosen Möglichkeiten, von lächerlichem Kitsch, von heuchlerischer Fassade, von den Brauntöten von Soho, der erzwungenen Eleganz des wiederentdeckten Tribeca, dem künstlerischen Chelsea … Träume von New York sind ein virtueller Raum, in dem Text entsteht. Ist ein Sonnenuntergang auf der Brooklyn-Bridge wirklich etwas so Besonderes? Ich weiß es nicht. Ich glaube es nicht einmal wirklich. Aber es spielt nicht im Geringsten irgendeine Rolle.
Schreibende brauchen ihre Vorstellungen, ihre Lügen von New York oder anderswo so wie Malende das Licht des Mittelmeers, die Nähe zu Cézanne und Bonnard. Malen kann man überall. Natürlich kann man das. Es gibt aber nun einmal inspirierende Räume. Orte, an denen Schöpferisches deshalb leicht entsteht, weil man voraussetzt, dass es so sein muss – und man muss sie nicht erkundet haben, um sie zu kennen.
Würde ich tatsächlich eines Tages nach New York reisen, würde ich wahrscheinlich selbst nach einem Jahr nichts von der Wirklichkeit dieser Stadt wissen. Ich würde nicht enttäuscht, denn ich würde das sehen, was ich von New York glaube. Ich würde die Träume aus unzähligen Lektüren und Fernsehberichten leben. Sie riechen, sie schmecken, sie hören.
Und ich würde dort ein Buch schreiben. Mein bestes. Ganz sicher.