Kreativität als Missverständnis

TextLoft wirbt überschwänglich mit Begriffen wie „kreativer Raum“, „kreative Welten“. Das Ziel ist es, potenziellen Kunden zu vermitteln, dass die Texte, die hier entstehen, nicht so einfallslos sind, wie man sie sonst so gut wie überall findet, dass ich mir Gedanken über ihre Aufträge mache und ich andere, originellere und stimmungsvollere Ergebnisse erziele, als andere Texter es tun. Es ist ein Marketing-Argument, das sich in erster Linie an Leser richtet, die sich nie Gedanken über das gemacht haben, was Schreiben ist und die es auch nicht interessiert. „Kreativ“ bedeutet für sie „das Gegenteil von 08/15“ – damit kann ich leben, denn Eigenwerbung muss nun einmal mit den Wölfen heulen und sich Instrumenten bedienen, die auch jeder versteht und über die gerade Konsens herrscht, auch wenn die Genauigkeit des Wortsinns darunter leiden mag.

Privat aber würde ich dieses Wort in dieser Bedeutung niemals verwenden, denn es ist ungenau und vermittelt ein absolut falsches Bild dessen, was Schreiben ist.

Aus irgendeinem Grund, der mir mittlerweile entfallen ist, ergab es sich, dass ich neulich mit einer flüchtigen Bekannten neben den üblichen, belanglos-oberflächlichen Plattitüden auf das Thema „Beruf“ zu sprechen kamen. Wie sich herausstellte, ist auch sie freiberuflich tätig – als Übersetzerin. Als ich ihr, ohne mir dabei etwas Besonderes zu denken, von TextLoft und meiner Arbeit erzählte, rief sie voller staunender Bewunderung aus: „Oooh, dann sind Sie aber richtig kreativ! Also, ich könnte das gar nicht, ich bin überhaupt nicht kreativ!“ In Bruchteilen von Sekunden müssen in meinem Gehirn gleichzeitig eine Vielzahl von vor Sozialkompetenz nur so strotzenden Routinen und Automatismen abgelaufen sein, denn es gelang mir tatsächlich, einfach nur wortlos, etwas verlegen schulterzuckend und höflich zu lächeln. Ich empfand ihre Bemerkung als so dumm, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie zu korrigieren und damit in Verlegenheit zu bringen. Wie sie aus der Tatsache, dass ich schreibe, spontan zurückschließen konnte, dass ich kreativ sei, führte ich auf ein eingeschränktes und einfältiges Urteilsvermögen zurück, tat es überheblich kopfschüttelnd ab und vergaß den Vorfall.
Vor wenigen Tagen allerdings überraschte mich eine Online-Freundin, an deren intellektuellen Fähigkeiten ich wiederum nicht zweifle, mit einem ähnlichen Ausspruch, was mich dazu brachte, noch einmal über die Angelegenheit nachzudenken.

In der Tat bin ich in keiner Weise kreativ und bin es auch nie gewesen. Kreativität ist Einfallsreichtum, Träumerei – nichts davon entspricht meiner Persönlichkeit, und mir könnte niemals ein Science Fiction- oder Fantasy-Roman einfallen. Die Gabe einer Joanne K. Rowling, eines John Ronald Reuel Tolkien oder eines Robert Heinlein ist mir absolut fremd. In meinem Beruf erschaffe ich Stimmungs- und Bildertexte, in meiner Freizeit schreibe ich Kriminalromane und Thriller. Beides beruht auf der genauen Beobachtung der Wirklichkeit, der Kenntnis der menschlichen Psyche und der Macht der Sprache auf das Gehirn, der Liebe zum Detail, zur Nuance. Ebenso unterscheidet sich ein Comic-Zeichner, der einen Superhelden und sich in Menschen verwandelnde Roboter erfindet, von einem Landschaftsmaler: Während der erste im eigentlichen Sinn in der Tat als kreativ zu bezeichnen ist, besitzt der zweite lediglich ein Auge für Bilder und Stimmungen und ein Handwerk, das ihm ermöglicht, das wiederzugeben, was er sieht.

Durch diese Überlegungen wurde mir bewusst, wie sehr die Tätigkeit des Schreibens in der breiten Bevölkerung missverstanden wird. Dass Schreiben mit Begriffen wie Kreativität assoziiert wird, führt zu einer katastrophalen allgemeinen Sichtweise des Berufs und seiner Anforderungen.
Schreiben ergibt sich nicht aus einem vom Himmel herunter regnenden Manna. Schreiben ist Handwerk, das Ergebnis einer soliden Ausbildung und unerbittlich zahlreicher und vielfältiger Übungen, sowie eines Grundpolsters genetischer Voraussetzungen, die für gewöhnlich als Talent aufgefasst werden. Auch dies hat nichts mit Kreativität zu tun: Ein Weltrekordler im 100-Meter-Lauf ist talentiert und hat von der Natur gewisse Vorzüge erhalten, die ihn – mit dem entsprechenden Training und Willen gepaart – dazu befähigen, deutlich schneller zu laufen, als andere es jemals könnten. Zu sagen, dass er kreativ sei, wäre absurd.
Erforderliche natürliche Eigenschaften sind für das Schreiben Geduld, ein sicheres Gespür für ästhetische Werte, ein sehr erhebliches Einfühlungsvermögen, Beobachtungsgabe, Vorstellungskraft, Selbstdisziplin, analytische Gründlichkeit, systematische Genauigkeit, synthetische Strenge. Unabdingbare äußere Bedingungen sind Freiheit und mitunter Ruhe. Im Gegensatz zu einer wirklich kreativen Tätigkeit, entsteht das Schreiben nicht aus dem Nichts und aus eigener Kraft. Es bedient sich nur der äußeren und der inneren Natur.